
Bürgerkrieg und die Folgen "Die Welt hat den Sudan vergessen"
Brutalität, Vertreibung, Hunger: Die Lage im Sudan gilt als größte humanitäre Krise der Welt. Flüchtlingslager sind derart überfüllt, dass es nicht mal mehr für alle Zelte gibt.
Das Einzige, was Anas noch von der Welt sieht, ist die Decke eines Zeltes. Der Junge liegt zusammengekrümmt auf einem Feldbett in einem zugigen Zelt, der Wind pfeift durch die Ritzen und bläht die Plastik-Planen auf. Am Fußende seines Bettes sitzt sein Vater, Mohammed, und weint. Weil er nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Weil die Welt sie vergessen hat. Weil er für sich und seinen Sohn keine Zukunft sieht.
"Als der Krieg ausbrach, bin ich aus der Hauptstadt Khartum geflohen. Unser Wohnviertel wurde wahllos mit Artillerie beschossen. Die meisten meiner Nachbarn wurden getötet. Es war schrecklich. Die Kommunikationsleitungen waren unterbrochen, ich konnte niemanden erreichen. Also beschloss ich, dass wir fliehen."
Das Geld wird für Dialyse und Medikamente gebraucht
Mit seiner Frau, seinen beiden Söhnen und vier Töchtern erreicht Mohammed nach einer beschwerlichen Reise Port Sudan, ganz im Osten des Sudan. Die Hafenstadt ist von den Kämpfen verschont geblieben. Hunderttausende sind hierhin geflohen, suchen Obdach. Mohammed hat Glück, er und seine Familie bekommen einen Platz in einem improvisierten Flüchtlingslager auf einem Schulhof - Hunderte Familien hausen dort in Zelten, zu acht bewohnt die Familie ein Zelt, in dem gerade genug Platz ist für ein paar Schlafstellen.
Doch der Sohn Anas ist krank - Nierenatrophie, das heißt, seine Nieren sind geschrumpft. Dreimal pro Woche muss der Junge zur Dialyse, zur Blutwäsche. Eigentlich bräuchte er dringend eine Transplantation.
Wie gerne würde der Vater seinem Sohn eine Niere spenden, doch sie haben kein Geld - nicht für die Untersuchungen, schon gar nicht für die Transplantation. Die Katheter drücken auf die Nervenbahnen des jungen Mannes. Er kann nicht mehr laufen, liegt fest im Bett, nur manchmal schieben ihn seine Schwestern im klapprigen Rollstuhl ein paar Meter über den sandigen Boden durch das Camp.

Mohammed würde seinem kranken Sohn gerne eine Niere spenden. Doch daran ist nicht zu denken.
Irgendwie versucht die eigentlich gebildete Familie klar zu kommen. Der Vater fährt Tuktuk, die Mutter verkauft Snacks an der Straßenecke. So können sie zumindest die Medikamente bezahlen.
"Ich trage den Jungen zum Dialysezentrum und geben alles, was ich habe, für ihn aus. Ich fahre schwarz mit dem Bus, weil ich das Geld nicht habe. Er braucht täglich drei oder vier verschiedene Medikamente. Das alles kostet Geld. Früher gab es Organisationen, die uns geholfen haben, aber heute nicht mehr. Ich zahle alles aus eigener Tasche. Ich habe nichts mehr."
Krieg seit fast zwei Jahren
Der Krieg, der seit fast zwei Jahren im Sudan wütet, hat die Not im Land nahezu unendlich gemacht und lässt kaum Raum für Einzelschicksale. Im Sudan kämpft der Armeechef und De-facto-Machthaber des Landes, Fattah al-Burhan, mit der nationalen Armee gegen seinen ehemaligen Stellvertreter, den Milizenführer Mohammed Hamdan Daglo, genannt Hemeti. Dieser befehligt die sogenannte RSF-Miliz, die für grausame Menschenrechtsverbrechen vor allem in der Provinz Darfur bekannt ist.
Der Gouverneur von Nord-Darfur, Minni Minawi, sagt im Interview mit der ARD: "Alle Krankenhäuser zerstört, alle Schulen zerstört. Sobald sich ein paar Menschen versammeln, bombardieren sie mit hochentwickelten Drohnen. Was in der Stadt al-Dschunaina passiert ist, war ethnische Säuberung. Sie haben mehr als 8.000 Menschen in weniger als einer Woche getötet."
25 Millionen Menschen von Hunger bedroht
Mehr als zwölf Millionen Menschen sind laut UN mittlerweile auf der Flucht vor der Gewalt. Das sind mehr Menschen, als die fünf größten deutschen Städte Berlin, Hamburg, München, Köln und Frankfurt/Main zusammen an Einwohnern haben.
Und der Krieg hat eine beispiellose Hungersnot ausgelöst: Mehr als 25 Millionen Menschen sind im Sudan von Hunger bedroht, sagt Leni Kinzli vom UN-Welternährungsprogramm: "Die humanitäre Lage ist wirklich katastrophal. Es ist die größte humanitäre Krise der Welt. In den letzten zwei Jahren hat sich die Zahl der Menschen, die von Hunger bedroht sind, mehr als verdoppelt. Und der Hauptgrund dafür ist der Krieg."
Und trotz der riesigen Not und der erdrückenden Zahlen sind es die Einzelschicksale, die es wert sind, gehört zu werden. Jeder Geflüchtete trägt eine Geschichte mit sich. Jeder ist gezeichnet von der Flucht, vermissten Angehörigen, der Angst vor einer ungewissen Zukunft.

Die Menschen im Flüchtlingslager leben in notdürftig errichteten Zelten.
Früher IT-Ingenieur, heute obdachlos
Nur Ahmed lacht. Das sieben Monate alte Baby sitzt auf einer Decke und gluckst vor Freude. Und lässt die Umstehenden einen Moment lang alles vergessen. Alle hier auf der Straße lieben das Baby - eines der jüngsten Kriegsvertriebenen in Port Sudan. "Wir sind vor dem Beschuss in Khartum geflohen", erzählt Vater Ali. "Wir sind hierher gekommen, um unsere Kinder zu versorgen, aber man lässt uns nicht ins Camp. Sie haben uns rausgeworfen. Die Bewacher lassen uns nicht rein."
Tag und Nacht campiert die Großfamilie vor den Toren des Flüchtlingslagers auf der Straße - ohne Zelte, ohne Schutz. Das Lager ist überfüllt. Und jeden Tag kommen neue Binnenvertriebene an, geflohen vor den aktuell heftigen Kämpfen in Sudans Hauptstadt. "Ich hatte mal ein normales Leben", sagt der Vater, ein IT-Ingenieur. Jetzt ist er obdachlos.

"Die Kinder haben noch nicht mal Unterwäsche"
"Wir brauchen das wichtigste im menschlichen Leben", ergänzt seine Schwester: Nahrung, Unterkunft und Kleidung. "Die Kinder haben noch nicht mal Unterwäsche. Es gibt kein Essen. Die Kinder sind krank. Wir haben eine Tragödie erlebt, die Kinder haben Angst. Wenn sie in der Ferne Granaten hören, fangen sie an zu schreien."
Die Neuankömmlinge brauchen dringend Hilfe. Wir fragen den Camp-Manager, warum sie nicht ins Lager dürfen. Und sogar der bricht aus Verzweiflung in Tränen aus. "Ich würde mir so wünschen, dass jeder Vertriebene einen Platz im Lager findet", sagt er. "Aber wir haben nicht genug sanitäre Einrichtungen und Essen für alle." Es gebe kein einziges freies Zelt. "Aber wie heißt es: 'Wer nichts mehr hat, kann nichts geben.' Ich schwöre bei Gott, dass wir nichts mehr übrig haben, was wir ihnen geben könnten."
USA stellen eventuell Hilfen ein
Trotz der vielen Flüchtlinge gilt Port Sudan fast noch als heile Welt im Vergleich zum Rest des riesigen Landes. Im Hafen ist gerade eine große Weizenlieferung angekommen: Mehl aus den USA für das UN-Welternährungsprogramm. Vielleicht eine der letzten Hilfslieferungen aus den USA. Sie soll eine Million Menschen einen Monat lang satt machen. Aber auch das wirkt im Sudan fast wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Manche Regionen hat immer noch keine Hilfe erreicht.
Anas, der nierenkranke Junge im Zelt, bekommt davon nicht viel mit. Seine Familie hört, dass die nationale Armee Geländegewinne gemacht hat und die grausame RSF-Miliz möglicherweise zurückgedrängt wird. Aber noch ist ein Kriegsende in weiter Ferne.
Und dann? Vielleicht wird sich irgendwann jemand finden, der Anas' Nieren-Operation bezahlt. Vielleicht gibt es im Sudan doch noch so etwas wie eine Zukunft.

Anas Schwester richtet einen Appell an die Welt, den Sudan nicht zu vergessen.
Menschen haben wenig Hoffnung
"Aber wer weiß schon, wann", sagt Anas. Und seine Schwester fügt hinzu: "Die Welt hat den Sudan vergessen. Ich bitte euch: Schaut hin! Seht die hungrigen, die verzweifelten Menschen im Sudan. Seht hin. Ihr Vereinten Nationen, ihr Europäer, die ganze Welt: Wir brauchen euch."
Und weil aufgeben keine Option ist, hat Anas trotz Krankheit und Krieg schon mal seinen Schulabschluss gemacht. Im Bett.
Zehntausende Menschen sind nach Schätzungen in dem Machtkampf zwischen der Regierung und den Rebellen, der im April 2023 ausbrach, ums Leben gekommen. Etwa zwölf Millionen Menschen sind im Land vertrieben oder über die Grenzen geflohen.
In einer früheren Version dieses Artikels fand sich eine Mengenangabe zur Mehl-Lieferung aus den USA, die offenbar nicht korrekt war. Wir haben die Angabe rausgenommen.
Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen