Das schwer beschädigte Rathaus von Semeniwka (Ukraine)

Frontstadt in der Ukraine "Wir verlieren unsere Menschen"

Stand: 22.04.2025 10:34 Uhr

Semeniwka liegt direkt an der Grenze zu Russland. Immer wieder wird der ukrainische Ort beschossen. Doch für den Wiederaufbau gibt es kein Geld mehr. Vielen bleibt nichts, als ihre Heimat zu verlassen.

Von Mariia Fedorova, ARD Kiew

Der blaue Himmel und die strahlende Sonne bilden einen seltsamen Kontrast zu den zerstörten Fassaden. Im kleinen Ort Semeniwka im Nordosten der Ukraine lebten vor dem Krieg rund 8.000 Menschen. Nur ein schmaler Waldstreifen trennt ihn von der russischen Grenze.

Es sei ein Leben wie auf einem Pulverfass, erzählt Bürgermeister Serhij Dedenko. "Normalerweise kommt zuerst der Beschuss und dann, wenn überhaupt, können wir Alarm auslösen. Wenn Russland von der Grenze aus feuert, gibt es keine Vorwarnung. Auch für uns gibt es dann keine Zeit, die Menschen zu warnen. Das ist das Schlimmste: Wir sind nie sicher."

Dedenko geht über den zentralen Platz zu seinem Büro im Verwaltungsgebäude - oder dem, was davon übrig ist. Die oberen Stockwerke sind komplett zerstört, die Fenster im Erdgeschoss mit Spanplatten vernagelt. "Sehen Sie hier, auf dem Platz, diese Einschläge? Das waren Schahed-Drohnen. Andere kamen von Granaten. Alle Arten von Munition, die in diesem Krieg fliegen, sind schon mal hier gelandet."

Der Betrieb im Rathaus geht weiter, irgendwie. An einen Wiederaufbau im großen Stil ist aber nicht zu denken - zu groß ist das Risiko, dass morgen alles wieder zunichte gemacht wird.

Der Bürgermeister von Semeniwka (Ukraine), Serhij Dedenko, im weitgehend zerstörten Rathaus.

Semeniwkas Bürgermeister Serhij Dedenko hat Verständnis für die, die wegziehen. Doch er wünscht sich, dass sie irgendwann wieder zurückkehren.

Als Kampfzone deklariert

Im März traf die Stadt ein weiterer Schlag: Semeniwka gilt nun offiziell als aktive Kampfzone. Das bedeutet, dass es keine staatlichen Mittel für Reparaturen mehr gibt. Auch Hilfsorganisationen halten Abstand - zu unsicher ist die Lage für viele Freiwillige, die in der Ukraine beim Wiederaufbau helfen.

Was bleibt, sind internationale Spenden für Baumaterialien. So versuchen die Menschen, ihre Stadt notdürftig zu flicken. Spannplatten, Planen und Zementplatten: In Semeniwka zählen sie inzwischen zum täglichen Bedarf und sind nicht weniger wichtig als Brot oder Trinkwasser.

"Hier ist der ganze Stapel Dachplatten. Diese Woche verteilen wir sie", erklärt Bürgermeister Dedenko. "Wenn etwas passiert, bildet sich hier sofort eine lange Schlange. Manche kommen mit dem Auto, andere bekommen das Material nach Hause gebracht. Irgendwie müssen wir weitermachen."

Kommission nimmt die Schäden auf

Nur wenige Fahrminuten entfernt, vor einem mehrstöckigen Wohnblock, versammelt sich eine kleine Gruppe Nachbarinnen und Nachbarn. Man kennt sich, hilft sich gegenseitig. Raisa Usowa lebt hier mit ihrem Ehemann, ihre Kinder wohnen in der Nachbarstraße.

Sie bittet hinein, geht voraus durch das Treppenhaus in den ersten Stock. "Das Fenster ist dort drüben rausgeflogen. Ohne Taschenlampe sieht man nichts. Wir haben dann eine Plane geholt und es selbst abgedeckt", sagt Usowa.

Die Zweizimmerwohnung liegt im Halbdunkel. Auch hier dämpfen Planen aus Plastik das Sonnenlicht. Der Einschlag kam Anfang Januar, an einem späten Abend. Die Druckwelle ließ die Fenster bersten. "Wir hatten solche Angst", erzählt Usowa. "Das Fenster, die Vorhänge, die Zimmerpflanzen. Alles ist auf uns geflogen. Selbst der Balkon auf der anderen Seite der Wohnung ist kaputt. Eine Kommission kam dann vorbei und nahm die Schäden auf."

"Für uns gibt es vorerst kein Geld"

Die Familie stellte einen Antrag auf Entschädigung, so, wie es derzeit viele tun. Ein Jahr nach Beginn der russischen Großinvasion hatte der Staat ein digitales Hilfsprogramm ins Leben gerufen: Fotos der Schäden hochladen, Antrag einreichen, auf eine Zahlung warten. Vor Ort prüfen eigens eingesetzte Teams die Angaben. Nur: Die Mittel sind begrenzt, die Voraussetzungen streng.

"Für uns gibt es vorerst kein Geld, wir gelten jetzt als aktive Kampfzone. Aber das ist unsere Wohnung. Unser Eigentum. Ich will hier nicht weg. Vor allem mit unserer Rente - woanders wartet auch niemand auf uns."

Immer mehr ziehen weg

So wie Usowa denken immer weniger. Familien ziehen weg, zurück bleiben vor allem die Älteren. "Ich kenne Leute, die erst aus kleinen Dörfern hierher gezogen sind, weil es sicherer war. Jetzt sind sie auch weg. Haben sich ein Haus woanders gekauft. Da ist es ruhiger."

Nur verständlich, reagiert Bürgermeister Dedenko. Sein Ton ist ruhig, sachlich. Um Menschen mit zerstörten Häusern unterzubringen, lässt die Stadt kleine Modulhäuser aufstellen, finanziert durch Spenden. Es ist ein Provisorium, mehr nicht.

Oft bekommen die Menschen dann ein Zertifikat, eine Art Gutschein, mit dem man sich anderswo in der Ukraine eine Wohnung kaufen kann. Es ist ein notwendiger Schritt. Für Semeniwka bedeutet er aber vor allem den Verlust seiner Bürger.

"Wir müssen wieder aufbauen"

"Viele unserer Leute haben so ein Zertifikat bekommen und sind weggezogen. Meistens kommen sie nicht zurück. Wenn man sich woanders etwas aufbaut, bleibt man auch dort", so Dedenko. "Für uns ist das ein Nachteil. Wir verlieren unsere Menschen. Die Zukunft einer Gemeinde - das sind aber die Menschen. Ich wünsche mir, dass sie zurückkehren. Aber dafür müssen wir wieder aufbauen." Ideen habe er viele, aber vorerst nur auf dem Papier.

Das Einzige, was momentan in Semeniwka tatsächlich entsteht, sind kleine Schutzräume aus Beton, auf Gehwegen, zwischen Wohnhäusern. Keller sind zu weit weg, wenn die Angriffe ohne Vorwarnung kommen. Krankenhäuser, Schulen, Kulturzentren, Wohnungen - das alles wird warten müssen, sagt Dedenko. Bis der Krieg vorbei ist.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 22. April 2025 um 10:22 Uhr.