
Großbritannien Hohe Haftstrafen für "Marsalek-Spione"
Ein Londoner Gericht hat sechs Bulgaren wegen Agententätigkeit für Russland zu teils hohen Haftstrafen verurteilt. Angeleitet haben soll die Gruppe der untergetauchte Ex-Wirecard-Vorstand Marsalek.
Haftstrafen zwischen fünf und knapp elf Jahren - so lautet das Urteil des Central Criminal Court in London im Prozess gegen sechs bulgarische Staatsbürger. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Gruppenmitglieder von Sommer 2020 an bis zu ihrer Festnahme im Februar 2023 für Russland spioniert haben.
Angeleitet hat die Bulgaren nach Erkenntnissen der Ermittler der untergetauchte Ex-Wirecard-Manager Jan Marsalek. Ihn vermuten Behörden in Russland.
80.000 Textnachrichten gesichert
Richter Nicholas Hilliard verhängte gegen den 47-jährigen Orlin R. die höchste Haftstrafe - zehn Jahre und acht Monate. Ihn sieht das Gericht als Anführer. Demnach kommunizierte R. federführend über den Messengerdienst Telegram mit Marsalek.
"Es gab eine Hierarchie in der Gruppe", sagte Hilliard in seiner Urteilsbegründung. Die Angeklagten verfolgten diese aus Platzgründen auf zwei Gerichtssäle verteilt im Gericht im Zentrum Londons, teilweise saßen sie hinter Glas.
Im Zuge der Ermittlungen konnten die Behörden fast 80.000 Textnachrichten sichern, die sich Marsalek und R. geschrieben haben. Marsalek habe dabei unter anderem das Pseudonym "Rupert Ticz" benutzt. Beide diskutierten den Chats zufolge insgesamt sechs Spionage-Operationen, die die Gruppe allerdings nur teilweise realisierte.
US-Militärstützpunkt in Deutschland ausspioniert
So legten sich einige der Mitglieder ab Herbst 2022 mehrere Monate lang vor den "Patch Barracks", einem US-Militärstützpunkt in Stuttgart, auf die Lauer. Dort, so ihre Vermutung, wurden zum damaligen Zeitpunkt ukrainische Soldaten an Luftabwehrsystemen ausgebildet. Die Bulgaren fotografierten Klingelschilder an Häusern in der Umgebung des Stützpunktes und suchten auf Immobilienportalen nach möglichen Mietwohnungen in unmittelbarer Nähe.
Gestoppt worden seien sie erst durch ihre Festnahme Anfang Februar 2023 im Raum London, so das Gericht. Neben Drohnen und 200 Mobiltelefonen stellte die Polizei damals gefälschte Aufenthaltsgenehmigungen und Reisepässe sicher. Die Dokumente seien unter anderem verwendet worden, um in Großbritannien zwölf Bankkonten zu eröffnen. Wer die Papiere erstellt hat, ist unklar. Gereist sind die Bulgaren damit nach Erkenntnissen des Gerichts wohl nicht.
Drei mutmaßliche Spione haben Geständnisse abgelegt
R. sowie zwei seiner Mitstreiter haben im Zuge des Prozesses, der im November vergangenen Jahres begonnen hatte, Geständnisse abgelegt. Ohne ein solches Geständnis wären die gegen sie verhängten Haftstrafen deutlich höher ausgefallen. Richter Hilliard betonte, angesichts der gravierenden Straftaten wären sogar bis zu 14 Jahre Gefängnis möglich gewesen.
Nach Recherchen des BR standen Marsalek und Orlin R. mindestens seit 2015 in Kontakt. Damals war der Ex-Wirecard-Manager noch Mitglied des Vorstands. E-Mails, die dem BR vorliegen, zeigen, dass sich beide im Juni 2015 über abhörsichere Mobiltelefone ausgetauscht haben.
Wirecard überwies Zehntausende Euro
2019 veranlasste Marsalek den Recherchen zufolge, dass Wirecard auf Konten von Firmen, die Orlin R. und dem Mitangeklagten Bizer D. zugerechnet werden, mehrere zehntausend Euro überwies. R. und D. hatten Wirecard dafür IT-Dienstleistungen in Rechnung gestellt. Ob sie diese tatsächlich erbracht haben, ist nicht bekannt.
Entführung von Investigativjournalisten geplant
Im Zuge des Londoner Gerichtsverfahrens wurde zudem bekannt, dass R. und Marsalek Pläne für die Entführung von zwei Investigativjournalisten geschmiedet haben. Diese seien allerdings nicht umgesetzt worden.
Vor wenigen Tagen veröffentlichte das Gericht weitere Ermittlungserkenntnisse, wonach sich Orlin R. und Jan Marsalek 2021 darüber ausgetauscht haben, wie sie nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan von Kabul aus Evakuierungsflüge von US-Bürgern organisieren können - nach einer entsprechenden Anfrage der CIA.
Dabei hätten finanzielle Interessen im Vordergrund gestanden, so das Gericht. Mit sieben Piloten und Flugzeugen aus Bulgarien hätten hunderte Personen ausgeflogen werden können. Ob das tatsächlich passiert ist, blieb offen.
Haftstrafe erst in London, dann in Bulgarien
Die sechs Bulgaren werden die Hälfte der Haftstrafe in Großbritannien verbüßen müssen. Danach werden in ihre Heimat ausweisen. Wie der Verteidiger von Orlin R. dem BR sagte, akzeptiere sein Mandant das Urteil. Der Anwalt von Jan Marsalek war für eine Stellungnahme bislang nicht zu erreichen.