
Merz besucht Brüssel Führung trotz Fehlstart?
Mit Europa kennt sich Kanzler Merz aus, er war einige Jahre EU-Parlamentarier. Aber kann er den hohen Erwartungen in EU und NATO gerecht werden? Dort hofft man auf neue Impulse - trotz des Fehlstarts in Berlin.
In Brüssel und Straßburg stehen einem altem Vorurteil zufolge Austragshäuser für Politikerinnen und Politiker, die ihre besten Zeiten hinter sich haben: "Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa", galt lange Zeit ein entsprechender Spruch.
Friedrich Merz ist der lebende Beweis dafür, dass das Klischee nicht zutrifft. Er hat als junger Abgeordneter im EU-Parlament begonnen; mit 69 Jahren ist der CDU-Chef (und mehrfache Großvater) im Kanzleramt angekommen.
Merz weiß also genau, wie Europa tickt, und er will in der Gemeinschaft eine führende Rolle übernehmen: "Wir werden liefern", erklärte er vergangene Woche beim Kongress der europäischen Christdemokraten (EVP) in Valencia. Die Bundesregierung werde zu Europas tatkräftigsten Unterstützern zählen.
Genau das erwarten die EU-Partner vom Regierungschef des bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Mitgliedsstaates. Merz‘ Stolperstart ins Amt hat allerdings Zweifel geweckt, ob er sein Versprechen halten kann.
"Erwartungen an Merz waren überhoch"
In den europäischen Hauptstädten und in der EU-Kommission wurde aufmerksam registriert, dass es zwei Anläufe brauchte, bis in Berlin weißer Rauch aufstieg. Trotzdem überwiegt die Erleichterung, dass Deutschland jetzt über eine handlungsfähige Bundesregierung verfügt.
Der Europa-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Nikolai von Ondarza, sieht es sogar positiv: "Letztlich ist es vielleicht auch ein guter Dämpfer, denn die Erwartungen an Friedrich Merz waren bei den Partnern teilweise überhoch. Mit diesem holprigen Start ist klar geworden, dass Friedrich Merz mehr als frühere Kanzler auf die Innenpolitik schauen muss, um Deutschland in Europa positionieren zu können."
Das aber ist dringend nötig, denn der Bruch der Ampel sowie Frankreichs innenpolitische Krise haben die Entscheidungsfindung in der EU zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt erschwert, während Russland mit unverminderter Härte die Ukraine angreift und sich der frühere Sicherheitsgarant und wichtigste Handelspartner USA von Europa abwendet.
Dem können die EU-Staaten nach Merz‘ Ansicht nur gemeinsam begegnen. Er verlangt, neue Rüstungsprojekte vereint anzugehen und die Produktion schnell hochzufahren. NATO-Generalsekretär Mark Rutte, den Merz am Nachmittag in Brüssel trifft, hat seinen Glückwunsch zum Wahlsieg mit der Erwartung verbunden, dass der Bundeskanzler dabei eine Führungsrolle übernimmt.
Erste Reisen als klares Signal
Die EU-Partner haben begrüßt, dass Berlin für Verteidigungsausgaben die Schuldenbremse gelockert hat. Deutschland beantragte als erster EU-Staat in Brüssel, dabei eine Ausnahmeklausel in den europäischen Schuldenregeln zu nutzen.
Dass Merz nach dem Amtsantritt gleich nach Paris und Warschau reiste, ist Pflichtübung, aber auch klares Signal. Er will das für die Gemeinschaft so wichtige deutsch-französische Verhältnis beleben, das sich während der Amtszeit von Olaf Scholz abgekühlt hat.
Der Bundeskanzler und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vereinbarten, in der Verteidigungspolitik enger zusammenzuarbeiten. Sie stellten damit bewusst Gemeinsamkeiten in den Vordergrund, obwohl Differenzen zwischen Berlin und Paris bleiben, etwa mit Blick auf das Mercosur-Freihandelsabkommen, mögliche EU-Gemeinschaftsschulden oder die Rolle der Atomkraft.
Merz möchte auch die Beziehung zu Polen vertiefen, die unter seinem Vorgänger distanziert blieb. Osteuropäische EU-Partner kritisierten die aus ihrer Sicht zögerliche Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine und Scholz‘ Nein zu Taurus-Marschflugkörpern für Kiew.
Dass Merz und der polnische Ministerpräsident Donald Tusk zur EVP-Parteienfamilie gehören, könnte die Annäherung erleichtern. Sie dürfte außerdem nach Abschluss der Präsidentschaftswahlen in Polen Anfang Juni einfacher werden, wenn Tusk innenpolitisch freier agieren kann.
Schlüsselpositionen in der Hand einer Partei
Der Rest Europas setzt darauf, dass Berlin seine Interessen in Brüssel künftig eindeutiger vertritt. Im Koalitionsvertrag versprechen Union und SPD, auf der europäischen Bühne geschlossen aufzutreten. Sie stimmen auf jeden Fall grundsätzlich darin überein, dass Deutschland militärisch handlungsfähig und politisch widerstandsfähig werden muss.
Die finanzielle Basis dafür ist durch die Lockerung der Schuldenbremse schon gelegt. Die Koalitionspartner wollen Reibungsverluste wie in der Ampel vermeiden, deren Mitglieder sich wegen Streits untereinander mehrmals nur spät oder gar nicht zu EU-Vorhaben positionierten und in Brüssel enthielten ("german votes"), was Deutschlands Handlungsfähigkeit und Ansehen geschadet hat.
Die Chancen auf Besserung stehen gut: Anders als bei der Vorgängerregierung liegen Kanzleramt, Auswärtiges Amt und Bundeswirtschaftsministerium jetzt in der Hand einer Partei, der CDU. Um die Europapolitik besser zu steuern, hat Merz erfahrene Experten wie den bisherigen EU-Botschafter Michael Clauß ins Kanzleramt geholt, der aus eigener Erfahrung weiß, wie Uneinigkeit in Berlin in Brüssel ankommt.
Merz soll Europa im Blick behalten
Dass das wirtschaftsstärkste EU-Land nun von einer Koalition unter CDU-Führung regiert wird, verbreitert die Machtbasis der europäischen Christdemokraten noch. Mit Merz stellt die Europäische Volkspartei, zu der CDU und CSU gehören, dreizehn EU-Regierungschefs und -chefinnen und damit die Mehrheit am Gipfeltisch.
Die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen ist Präsidentin der EU-Kommission, die Europas Gesetze vorschlägt. Der Bundeskanzler trifft sie am Vormittag. Der stellvertretende CSU-Chef Manfred Weber steht der EVP-Gruppe als größter Fraktion vor.
Das macht es dem Bundeskanzler leichter, wichtige Vorhaben in seinem Sinne voranzubringen: Er will Europas Verteidigungsfähigkeit stärken, beim Klimaschutz mehr Rücksicht auf die Wirtschaft nehmen und irreguläre Migration drastisch einschränken.
Als Oppositionsführer hat Merz vom europäischen EVP-Netzwerk profitiert. Jetzt setzen von der Leyen und Weber darauf, dass Merz als Bundeskanzler Europa stets im Blick behält. Das Datum seines ersten Brüssel-Besuchs im neuen Amt deutet darauf hin: Merz kommt auf den Tag genau 75 Jahre, nachdem Frankreichs Außenminister Robert Schuman mit seinem Plan zur Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl die Grundlagen für die Europäische Union legte.