
Geflohen aus Mariupol Zwischen Heimweh und Hoffnung
Bis zum russischen Angriff auf die Ukraine betrieb Wjatscheslaw Dolschenko in Mariupol ein Museum. Doch nun ist alles zerstört. Er selbst musste fliehen - und hofft darauf, eines Tages zurückkehren zu können.
Eine uralte rostige Waage ist das einzige, was Wjatscheslaw Dolschenko aus dem kleinen Privatmuseum retten kann, das er jahrzehntelang hingebungsvoll aufgebaut hat. Seit seiner Vertreibung aus der Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer, wo er bis zum russischen Großangriff gelebt hatte, schwankt der lebhafte Mann Ende 60 zwischen wilder Hoffnung auf einen ukrainischen Sieg und tiefer Depression.
"Jeder Tag ist die Hölle für mich", sagt er in der Kiewer Wohnung, die er mit seiner hochbetagten Mutter Tamara Pawliwna und dem Hund Asja bewohnt. Nach Angriff, Belagerung und traumatischen Monaten unter russischer Besatzung wagten sie im Herbst 2022 die Flucht aus Mariupol.

Wjatscheslaw Dolschenko hält eine Waage in der Hand. Es ist das einzige Stück, das er aus seinem kleinen Privatmuseum retten konnte. Alles andere wurde nach dem russischen Großangriff auf Mariupol zerstört.
"Soll er Putin doch Alaska geben"
Um den Angriffskrieg zu beenden, müsse die Ukraine Gebiete an Russland abtreten, heißt es oft lapidar und je nach Laune fordert das auch US-Präsident Donald Trump. Doch Russlands Präsident Wladimir Putin werde auch dann nicht haltmachen, ist Wjatscheslaw Dolschenko felsenfest überzeugt. "Wenn Trump Land abtreten möchte, kann er Russland ja Alaska geben", sagt er sarkastisch.
Seit Beginn ihres Großangriffs belagert die russische Armee auch Mariupol, beschießt Wohnungen, Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen oder das umkämpfte Asowstalwerk. Im März 2022 wurde das zentrale Theater bombardiert, rund 1.200 Menschen hatten dort laut ukrainischen Schätzungen Schutz gesucht. Die Dolschenkos wohnten direkt daneben, und das Haus mit dem kleinen Museum wurde getroffen. Es brannte lichterloh und sie retteten nur knapp ihr eigenes Leben.
Tagelang irrten sie durch rauchende Ruinen, schliefen auf Müll, Pappe und losen Brettern und fanden schließlich in einem ausgebrannten Haus eine Art Obdach. Sie wickelten sich in Zellophan und banden sich Plastiktüten um die kalten Füße, denn sie hatten weder Kleidung noch Schuhe. Später kamen sie in der zerschossenen Ruine von Bekannten unter.

Tamara Pawliwna mit ihrem Sohn Wjatscheslaw.
Wohl Zehntausende Zivilisten getötet
Kein Strom, kein Wasser, keine Heizung, keine Verbindung zur Außenwelt: So harrten die Dolschenkos wie Hunderttausende weitere in dunklen kalten Kellern und Ruinen aus. Tausende oder sogar Zehntausende Zivilisten wurden laut ukrainischen Schätzungen bei dem russischen Angriff auf Mariupol getötet, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj italienischen Medien im November 2024. Human Rights Watch recherchierte, dass die Menschen vor allem durch Beschuss oder fehlende medizinische Versorgung von Verletzungen ums Leben kamen.
Die Dolschenkos haben monatlich umgerechnet nur rund 260 Euro zur Verfügung. Ihre bescheidene Mietwohnung zahlen sie mit deutschen Spenden. Russische Zerstörung und Besatzung, Vertreibung, Verlust von Angehörigen, persönlichen Dingen, Wohnung und Arbeitsplatz bedeutet auch für sie Verarmung und sozialer Abstieg. Millionen Menschen müssen das verkraften und dies kann Jahrzehnte dauern, vermutet Andryj Holovin. Der Priester aus dem Kiewer Vorort Butscha hat die russische Besatzung dort erleben müssen und kennt die schweren Traumata von Überlebenden.
"Im Moment spüren wir die Folgen noch nicht so, weil wir unter Adrenalin stehen, denn es herrscht Krieg. Aber in der Ukraine gibt es keine Familie, die nicht auf irgendeine Weise betroffen ist."
Enormer russischer Besatzungsdruck
Die russischen Besatzer haben Mariupol in ein zynisches Vorzeigeprojekt verwandelt. Als Meister der Propaganda gaukeln sie der Welt Wiederaufbau und Alltag vor. Dabei ist die Wirklichkeit in den russisch besetzten ukrainischen Gebieten auf der Krim, in Teilen der Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson von einem enormen Besatzungsdruck geprägt.
Nach ukrainischen Angaben hält Russland mehr als 20 Prozent der Ukraine besetzt. Rund sechs Millionen Menschen leben demnach in diesen Gebieten, davon 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche. Russland hat dort strikt kremltreue Besatzungsverwaltungen etabliert. Unter anderem russische Nationalgardisten und FSB- Geheimdienstler sollen jeden Widerstand ersticken, sagt Ostap vom staatlichen "Zentrum für nationalen Widerstand" in Kiew, das die Situation in den russisch besetzten Gebieten beobachtet. An mobilen und festen Kontrollpunkten würden die Menschen ständig durchsucht, mitgenommen und eingesperrt.
Besetzte Gebiete sind rechtsfreier Raum
In russischer Gefangenschaft sind Willkür und systematische Folter an der Tagesordnung. Das belegen zahlreiche Berichte der Vereinten Nationen sowie internationaler und ukrainischer Menschenrechtsorganisationen. Russisch besetzte Gebiete sind voll von willkürlicher Gewalt - ein rechtsfreier Raum, den Scheinabstimmungen legitimiert haben sollen. Meinungs- und Pressefreiheit sind abgeschafft und die russische Propaganda soll sich über Kindergärten Schulen und Arbeitsplatz in den Köpfen verfestigen.
Laut Ostap vom staatlichen "Zentrum für nationalen Widerstand" werden ukrainische Jungen und Männer in die russische Armee zwangsmobilisiert, es gilt der russische Rubel und alle müssen russische Pässe annehmen, so ein Sprecher von Ostap.
"Die Besatzer können die Menschen natürlich nicht physisch zwingen und mit Gewehren jedes Haus abgehen", so der Ostap-Sprecher. "Gleichzeitig können sie aber ein normales Leben in den vorübergehend besetzten ukrainischen Gebieten unmöglich machen. Zum Beispiel, indem sie Menschen medizinische Versorgung verwehren oder ihnen drohen, den Wohnraum wegzunehmen." Ohne den russischen Zwangspass gelten Ukrainerinnen und Ukrainer im eigenen Land als rechtlose Ausländer. Es gebe dann weder Rente, noch medizinische Versorgung.
"Es wird einen Sieg geben, oder?"
Menschen in den besetzten Gebieten müssten ihr Eigentum neu registrieren - etwa Autos und Wohnungen. Wer das umgeht, wird schlicht enteignet. Moskau siedelt systematisch Menschen aus Russland in den besetzten Gebieten an. Zuwanderer, die reihenweise ukrainische Immobilien für einen Spottpreis erwerben können.
"Wer wäre ich jetzt dort?", fragt Dolschenko. Es sei grundfalsch, den Krieg einzufrieren. "Dann sammeln die Russen ihre Kräfte, und gehen wieder gegen uns vor. Sie werden uns nie in Ruhe lassen."
Abwesend zerknüllt Dolschenko eine Schokoladenpackung. "Es wird einen Sieg geben, oder? Ich lebe nur in der Hoffnung, dass es einen Sieg geben wird und wir nach Hause fahren, denn ich kann nicht mehr."