Anwohner sind in einer Straße in Kiew unterwegs.

Russischsprachler in der Ukraine Kein Bedarf an "Schutz" durch Russland

Stand: 22.06.2025 12:01 Uhr

Die russische Propaganda behauptet wiederholt, in der Ukraine würden russischsprachige Bürger unterdrückt. Neue Zahlen belegen: Auch bei ihnen hat Russland durch seinen Angriff fast alle Sympathien verspielt.

Von Florian Kellermann, ARD-Studio Kiew

Der russische Außenminister Sergej Lawrow wiederholte erst im Mai wieder eine der Thesen, mit denen Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine rechtfertigt: Die russischsprachige Bevölkerung im Nachbarland werde unterdrückt.

Es wäre ein "Verbrechen", wenn Russland diese "Millionen Menschen, für die Russisch Muttersprache ist", nicht beschütze. Die Rechte der russischsprachigen Ukrainer müssten auch in einem Friedensabkommen geregelt werden, so Lawrow laut Nachrichtenagentur RIA Novosti.

Der Fall einer YouTuberin

Maria Sebowa, 35 Jahre alt, ist Ukrainerin und russischsprachig aufgewachsen. Wenn sie solche Aussagen von russischen Politikern hört, komme ihr nur ein Gedanke, sagt sie: Alle Ukrainerinnen und Ukrainer sollten zum Ukrainischen wechseln.

Maria Sebowa

Als die YouTuberin Maria Sebowa nach Beginn des russischen Angriffskriegs vom Russischen ins Ukrainische wechselte, erhielt sie viel Unterstützung. Negative Reaktionen kamen nur aus Russland.

"Dann kann Russland gar nicht mehr versuchen, aus dieser Sprachenfrage Vorteile zu ziehen", sagt sie. Ganz abgesehen davon, dass Lawrows Worte ausgesprochen zynisch seien: Russland verwüstet mit seinem Angriffskrieg gerade die Städte im Osten der Ukraine, wo besonders viele Russischsprachige leben.

Maria betreibt einen Kanal auf YouTube. Seit sieben Jahren veröffentlicht sie Reiseberichte und zeigt, wie man auch ohne viel Geld die Welt sehen kann. Als Russland vor mehr als drei Jahren in die Ukraine einmarschierte, ging sie zum Ukrainischen über. Ja, es habe negative Reaktionen gegeben, sagt sie - aber nur aus Russland. "Sprich doch wieder normal", hätten ihre Fans dort geschrieben. Von den Ukrainern habe sie nichts Negatives gehört, und das habe einen Grund: Fast alle ihrer Landsleute verstehen sowohl Russisch als auch Ukrainisch.

Interviews in allen nicht besetzten Landesteilen

Natürlich wollen längst nicht alle russischsprachigen Ukrainer ihre Muttersprache aufgeben. Das bedeute aber keineswegs, dass sie von Russland Hilfe erwarteten, sagt der Soziologe Mychajlo Mischtschenko. Er arbeitet für die ukrainische Denkfabrik Rasumkow-Zentrum, die wegen der Propaganda aus Russland eine umfangreiche Befragung durchgeführt hat - mit Interviewern in allen Landesteilen, die nicht von Russland besetzt sind, auch im Donezbecken. Das Ergebnis: Die russischsprachigen Ukrainer stehen Russland inzwischen fast ebenso ablehnend gegenüber wie die Gesellschaft insgesamt.

Es gebe weiterhin Unterschiede zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, räumt Mischtschenko ein. Nur ein Prozent der ukrainischsprachigen Ukrainer gibt an, eine positive Haltung zu Russland zu haben. Bei den Russischsprachigen sind es immerhin 13 Prozent.

"Aber auch hier hat heute eine deutliche Mehrheit von 82 Prozent eine negative Haltung zu Russland", so der Soziologe. Er gibt zu bedenken, dass auch deutlich mehr Menschen im Osten des Landes angeben, unmittelbar unter Kriegsfolgen zu leiden - durch den Verlust von Angehörigen etwa oder durch erzwungene Binnenmigration.

Gesetz zur ukrainischen Sprache
In der Ukraine trat im April 2019 ein Gesetz zur ukrainischen Sprache in Kraft, das in Russland und anderen Nachbarländern scharf kritisiert wurde. Es sieht vor, dass die ukrainische Sprache in 30 einzeln benannten Bereichen des öffentlichen Lebens Vorrang haben muss - darunter in den Medien, in der Kultur, im Bildungswesen und im Einzelhandel. Danach mussten Radio- und Fernsehsender 75 Prozent ihrer Inhalte auf Ukrainisch verbreiten. Nach der russischen Invasion beschlossen einzelne Regionen - darunter die Hauptstadt Kiew - zusätzlich Moratorien, die den Gebrauch des Russischen bei öffentlichen Veranstaltungen vorübergehend grundsätzlich verbieten. Zu Beginn des Jahres 2024 wurde das Gesetz noch einmal verschärft. Jetzt müssen 90 Prozent der Inhalts bei landesweiten Radio- und Fernsehsendern in ukrainischer Sprache sein.

Weniger kulturelle Nähe

Die Befrager des Rasumkow-Zentrums versuchten auch, nicht nur die Haltung der Ukrainer zum russischen Staat und zur Staatsführung zu ermitteln. Auf einer Skala von eins bis zehn sollten sie einordnen, wie nahe sie sich kulturell den Menschen in Russland fühlen.

Die Frage sei so formuliert worden, dass dabei auch Lebensgewohnheiten berücksichtigt würden. Die Ukrainischsprachigen hätten im Durchschnitt einen Wert von 1,1 angegeben - also eine fast maximale kulturelle Fremdheit. Die russischsprachigen Ukrainer seien mit einem Wert von 2,9 im Durchschnitt auch auf deutliche Distanz gegangen.

Dabei handele es sich nicht um objektive Werte, betont Soziologe Mischtschenko. Natürlich seien sich Ukrainer und Russen wegen der gemeinsamen Geschichte in vielem ähnlich. Aber für die Ukrainer sei "heute das, was sie von Russen unterscheidet, wichtiger als das, was sie gemeinsam haben".

Viele wollen gar kein Russisch mehr

Auch das Kyjiv International Institute of Sociology kam bei einer Befragung im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis, dass die politischen Forderungen Russlands in der Ukraine kaum geteilt werden. Nur drei Prozent der im Februar 2024 Befragten traten demnach dafür ein, dass das Russische den Status einer zweiten Staatssprache bekommen solle.

Auch in östlichen Regionen lag dieser Wert unter zehn Prozent. 24 Prozent erklärten, es könne einen untergeordneten offiziellen Status in Regionen bekommen, wo die Bewohner dies wünschen. Vor allem die jungen Menschen zwischen 18 und 29 Jahren befürworteten, mit 84 Prozent der Befragten, dass die russische Sprache ganz aus dem offiziellen Sprachgebrauch verschwinden solle, so die Erhebung.

Politik lässt sich nicht mehr ausklammern

Maria Sebowa, die YouTuberin mit russischer Muttersprache, trauert jedenfalls ihren früheren Fans aus Russland nicht nach. Selbst mit einer sehr guten Freundin aus Kindheitstagen, die heute Russland lebt, spreche sie nicht mehr.

"Sie hat mich nicht gefragt, wie es mir geht, nachdem Russland die Ukraine überfallen hatte", erzählt sie. Früher hätten sie politische Themen aus ihrer Freundschaft ausklammern können. "Aber ich kann das jetzt nicht mehr", sagt Maria.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 19. Juni 2025 um 13:26 Uhr.