
Baden-Württemberg Abstiegskampf oder Aufholjagd? Özdemir muss die Grünen BW aus ihrem Tief holen
VfB-Fan Cem Özdemir soll in Heidenheim zum Grünen-Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 2026 gekürt werden. Ausgerechnet dann, wenn der VfB in Berlin Pokalsieger werden kann.
Ausgerechnet Heidenheim. Die Grünen küren an diesem Samstag beim Parteitag auf der Ostalb ihren Spitzenkandidaten für die Landtagswahl. In der Stadt, in der der örtliche Fußballclub gerade gegen den Abstieg aus der Bundesliga kämpft. Zur gleichen Zeit will der VfB Stuttgart im DFB-Pokalfinale in Berlin einen glorreichen Sieg gegen Arminia Bielefeld einfahren. Und Cem Özdemir, einer der treuesten VfB-Fans aus der Politik, sitzt in Heidenheim in der Relegation fest. Ob das ein schlechtes Omen ist? In der CDU wird jedenfalls gefeixt.
Kretschmann und Hagel bei DFB-Pokalfinale - Özdemir sitzt in Heidenheim fest
Während Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Özdemirs CDU-Rivale Manuel Hagel im Berliner Olympiastadion auf der Tribüne sitzen, muss der 59-jährige Hoffnungsträger der Grünen im Hauptsaal des Congress Centrums Heidenheim bei der Listenaufstellung dabei sein - und darf nur ab und zu nach nebenan, wo das Spiel am Abend auf Großbildschirm übertragen werden soll. Nach einer alten Fußballweisheit muss man wohl sagen: Manchmal hat man bei der Parteitagsplanung kein Glück und dann kommt auch noch Pech hinzu.
Nach Abgang als Bundesminister heißt der neue Titel: Spitzenkandidat
Gleichwohl wollen die Grünen den Parteitag als Startsignal für eine Aufholjagd nutzen. Nach der virtuellen Bewerbung Özdemirs Ende Oktober - "Entschieden für Baden-Württemberg" - tritt er nun erstmals vor die Parteibasis, um seinen Anspruch auf die Nachfolge Kretschmanns klarzumachen. Es wird auch Zeit. Die CDU hat den 37 Jahre alten Hagel vergangenes Wochenende zum Zugpferd für die Wahl bestimmt.
Özdemir - wie Kretschmann ein Super-Realo - wird nach seiner Kür am Samstag dann auch wieder einen Titel haben: Grünen-Spitzenkandidat. Und im Subtext soll stehen: Kretschmanns Wunschkandidat. Seine anderen Titel hat der Bundesminister für Landwirtschaft und Wissenschaft ja verloren, als die Regierung Merz angetreten ist.
Das heißt für ihn: Er hat so gut wie keinen Apparat mehr, muss mit den Bordmitteln der Grünen in Baden-Württemberg auskommen. In mehreren Interviews hat er schon erklärt, dass er vor allem durchs Land reisen und zuhören will. Immerhin - so beteuern es auch Parteilinke - habe er die Partei hinter sich. Denn allen sei klar, dass die Wahl nur mit einer starken Persönlichkeit noch zu gewinnen ist.
Özdemirs Mission: Rückstand in Umfragen auf CDU aufholen
Die politische Ausgangslage für Özdemir ist allerdings schwierig. Die Grünen, die bei der Wahl 2021 dank Kretschmann noch den Rekord von 32,6 Prozent schafften, liegen im BW-Trend nur noch bei 20 Prozent. Der kleine Koalitionspartner CDU - auch dank Berliner Rückenwind - bei 31 Prozent. Und dann ist da noch die AfD, sie liegt nur knapp hinter den Grünen mit 19 Prozent. Bei der CDU erwarten deshalb manche, dass nicht mehr unbedingt Özdemirs Grüne der Hauptkonkurrent bei der Wahl werden könnte, sondern die AfD, zumindest auf dem Land.
Zwar ist der Wert der Landes-Grünen noch immer deutlich über dem Niveau der angeschlagenen Bundespartei von knapp 12 Prozent, doch die Sorgenfalten der grünen Strategen sind tief. Denn die Grünen auf Bundesebene haben nach der Wahlniederlage im Bund auch noch ihr Vorzeige-Personal Robert Habeck und Annalena Baerbock verloren.
Ist der Traum von der grünen Volkspartei ausgeträumt?
Umso mehr Hoffnung setzen die Grünen in Baden-Württemberg auf Özdemir, den selbsternannten "anatolischen Schwaben". Vielleicht ist es ja ganz gut so, dass die Bundes-Grünen nicht so im Fokus stehen, zuletzt haben Habeck und Baerbock auch stark polarisiert. Stattdessen sollte sich der Blick voll nach Baden-Württemberg richten, denn hier steht am 8. März der erste große Stimmungstest auch für Kanzler Friedrich Merz (CDU) an. Für die Grünen muss eine Antwort auf die Frage her: Ist der Traum von der grünen Volkspartei ausgeträumt? Im Land hat Kretschmann seine Partei in drei Wahlen dort hingebracht. Nun muss Özdemir zeigen, ob er ähnliche Zugkräfte hat wie sein 77-jähriges Vorbild.
Özdemir betont schwäbische Wurzeln
Er, der Sohn türkischer Eltern, die Anfang der 60er Jahre nach Deutschland kamen, sich hier kennenlernten und in Bad Urach (Kreis Reutlingen) niederließen. In seinem Bewerbungsschreiben vom Oktober hieß es: "Ich bin in Bad Urach, am Fuße der Schwäbischen Alb, geboren und aufgewachsen. Unser Land hat meine Werte, meine Überzeugungen und meine Sicht aufs Leben geprägt. Es hat mir Chancen eröffnet, mich gefordert und geerdet." Wie Kretschmann ist Özdemir bemüht, seine ländlichen Wurzeln zu betonen, fällt bei Vor-Ort-Terminen sofort ins Schwäbische.
Özdemir wird als urbaner, akademischer Kandidat wahrgenommen
Und dennoch prallen beim Vergleich von Özdemir und Hagel Gegensätze aufeinander. Denn der langjährige Stuttgarter Bundestagsabgeordnete und überzeugte Berlin-Kreuzberg-Bewohner wird eher als urbaner, akademischer Kandidat wahrgenommen. Ein Vegetarier und Fahrradfahrer. CDU-Landes- und Fraktionschef Hagel kommt aus Ehingen (Alb-Donau-Kreis), war dort Filialleiter der Sparkasse und lebt auch noch dort. Er sagt gern von sich: "Bei mir ist nichts besonders, bei mir ist alles ganz normal.“
Der studierte Sozialpädagoge Özdemir gilt unter vielen Grünen als Idealbesetzung für Kretschmanns Nachfolge. Der Mann ist bundesweit bekannt und politisch erfahren, er gilt als äußerst pragmatisch und guter Redner. Bei der Bundestagswahl 2021 gewann er seinen Stuttgarter Wahlkreis mit 40 Prozent der Stimmen und wurde Stimmenkönig seiner Partei - kein Direktkandidat und keine Direktkandidatin der Grünen schnitt besser ab als er.
Özdemir deutlich bekannter und beliebter als Hagel
Das alles wirkt sich auch im jüngsten BW-Trend aus: Wenn die Menschen in Baden-Württemberg ihren Ministerpräsidenten direkt wählen könnten, würden sich 39 Prozent für den designierten Grünen-Kandidaten Cem Özdemir entscheiden. Nur etwa halb so viele (18 Prozent) würden Hagel vorziehen. Der Vorsprung von Özdemir hat laut Infratest dimap viel mit der Bekanntheit des ehemaligen Bundeslandwirtschaftsministers zu tun. Er wird von 48 Prozent für seine Arbeit gelobt. An die Popularität von Kretschmann reicht er aber nicht heran. Der Regierungschef erhält Zuspruch von 61 Prozent. Hagel überzeugt aktuell mit 21 Prozent gut ein Fünftel.
Teil der CDU-Anhänger sympathisiert mit Özdemir
Bei den Grünen ist sehr genau zur Kenntnis genommen worden, dass die Anhänger der Grünen mit 89 Prozent recht geschlossen hinter Özdemir stehen - und dass es bei der CDU anders aussieht. Nur 41 Prozent der CDU-Wählerinnen und -Wähler geben an, sie würden bei einer Direktwahl Hagel ihre Stimme geben. 25 Prozent tendieren dagegen zu Özdemir. Allerdings werden der CDU in fast allen Politikbereichen die meiste Kompetenz zugeschrieben.
Hoffnung macht den Grünen die Erinnerung an die Landtagswahl 2016. Noch im Wahlkampf Ende 2015 lag die CDU mit rund 40 Prozent in den Umfragen weit vor Kretschmanns Partei. Am Ende gewannen die Grünen.
Stellt sich auch die Grüne Jugend hinter den Super-Realo?
Um im Land anzukommen, muss Özdemir auch zusehen, dass die eher linke Grüne Jugend hinter ihm steht. Auf die Frage, ob sie Özdemir im Wahlkampf Beinfreiheit geben wollen, antworten die beiden Landeschefs Tamara Stoll und Tim Bühler nicht direkt. Stattdessen schreiben sie: "Wir Grüne haben bei den letzten Wahlen Vertrauen verloren, vor allem bei jungen Menschen, die uns 2021 wegen unserer Versprechen für eine gerechtere, klimafreundlichere Zukunft gewählt haben." Sie dringen deshalb darauf, dass die Grünen vor allem zwei Dinge in den Blick nehmen: "Klimaschutz und soziale Sicherheit."
Stoll und Bühler formulieren keine direkten Forderungen an Özdemir, haben aber klare Erwartungen an Kretschmann. Es sei nicht hinnehmbar, dass Baden-Württemberg seine Klimaziele verfehle. "Wenn die CDU bei diesen zentralen Themen weiterhin blockiert, dürfen wir uns nicht länger an der Nase herumführen lassen. Unsere Glaubwürdigkeit hängt davon ab, dass wir Haltung zeigen, statt Rücksicht auf Dauerbremser wie die CDU zu nehmen."
Zweifel an Özdemir gibt es auch bei den Grünen
Bei den Grünen gibt es auch Zweifler, ob Baden-Württemberg für die Partei nach Kretschmann zu halten ist. Dieter Salomon, Ex-Oberbürgermeister von Freiburg, sagte schon letzten Sommer im SWR-Videopodcast "Zur Sache intensiv", Özdemir sei zwar ein sehr beliebter und erfahrener Politiker. "Aber ich habe schon Bedenken, ob er über die grüne Kernklientel hinaus so viel Stimmen kriegen kann, wie das Winfried Kretschmann getan hat."
Salomon stellte auch infrage, ob die Menschen in BW einen Politiker mit türkischen Wurzeln als Regierungschef wollen. "Ich würde mich im Interesse von Cem, dem ich das gönnen würde, gerne täuschen. Aber ich glaube, das ist nicht so einfach, wie sich manche Grüne das vorstellen", sagte Salomon, der Hauptgeschäftsführer bei der IHK Südlicher Oberrhein ist.
Alt-Grüner Schlachter wechselt aus Frust zur FDP
Am Freitag machte noch Eugen Schlachter, Alt-Grüner aus Biberach, von sich reden. Der 68-Jährige wechselt zur FDP, aus Frust über die Grünen, die sich nicht wirklich um die Probleme der Menschen kümmerten. Über den designierten Spitzenkandidat Özdemir sagte Schlachter: "Er ist mir in der Landespolitik nie aufgefallen." Er stelle infrage, "ob er in dieser Rolle richtig ist".