Sie leben in Freiburg, zahlen Steuern, dürfen aber nicht mitentscheiden: 37.710 Menschen haben bei der Bundestagswahl kein Wahlrecht.

Baden-Württemberg Bundestagswahl: Warum fast 38.000 Menschen in Freiburg nicht abstimmen dürfen

Stand: 08.02.2025 06:46 Uhr

Sie leben in Freiburg, zahlen Steuern, dürfen aber nicht mitentscheiden: 37.710 Menschen haben bei der Bundestagswahl kein Wahlrecht, weil sie keinen deutschen Pass haben. Eine Initiative will das ändern.

Straßenbahnfahrer, Kitakräfte, Müllfrauen und -männer: Sie gehören zu Freiburg wie das Münster oder die berühmten Bächle. Aber bei der Bundestagswahl dürfen sie kein Kreuzchen setzen. Ohne deutschen Pass kein Stimmrecht. Das betrifft 37.710 Menschen, also fast jede fünfte Person in Freiburg. "Wahlrecht für alle", das fordert die Freiburger Initiative "Wahlkreis 100% e.V.". Seit Jahren kämpft sie für politische Teilhabe. Die bevorstehende Bundestagswahl befeuert ihr Engagement. Drei Beispiele.

Norwegerin: Seit 34 Jahren in Deutschland, aber kein Wahlrecht

Line Kristoffersen hat das Freiburger Rathaus als Treffpunkt vorgeschlagen. "Es ist ein besonderer und wichtiger Ort, es ist das Herz der Demokratie und da wollen wir hin", sagt die gebürtige Norwegerin entschlossen. Seit 34 Jahren lebt sie schon in Deutschland, die meiste Zeit davon im Breisgau: "Ich bin in Freiburg total verankert, hier ist meine Familie, hier sind meine Freunde, aber bei den Wahlen fühle ich mich total ausgeschlossen."

Die Demokratie liegt ihr am Herzen, aber Line Kristoffersen gehört zu mehr als 37.000 Menschen in Freiburg, die von der Bundestagswahl ausgeschlossen sind.

Die Demokratie liegt ihr am Herzen, aber Line Kristoffersen gehört zu mehr als 37.000 Menschen in Freiburg, die von der Bundestagswahl ausgeschlossen sind.

Die Kommunikationsdesignerin hat in ihrem ganzen Leben bisher nur zweimal gewählt. Einmal mit 18 Jahren in Norwegen und vor drei Jahren bei den Kommunalwahlen in ihrer Heimat. Dank einer Gesetzesänderung konnte sie per Briefwahl abstimmen, ohne extra zum Konsulat nach Berlin reisen zu müssen. Kristoffersen beschreibt sich selbst als politisch engagiert. Umso mehr schmerzt es sie, dass sie bei der Bundestagswahl am 23. Februar erneut nicht mitentscheiden darf: "Ich finde es ungerecht. Ich arbeite schon ewig hier, ich zahle Steuern und kann auch bei Bürgerentscheiden nicht mitentscheiden, mich überhaupt nicht beteiligen. Das ist kein gutes Gefühl." Auch von den Kommunalwahlen ist Kristoffersen ausgeschlossen. Als Norwegerin und damit Nicht-EU-Bürgerin darf sie auch dort nicht abstimmen.

Ich habe alle Rechte und Pflichten in Deutschland, ich kann hier ganz normal leben. Der einzige, aber große Nachteil ist, dass ich kein Wahlrecht habe. Line Kristoffersen, gebürtige Norwegerin in Freiburg

Kaufmann und Kitafachkraft fordern Gleichberechtigung und Mitsprache

Vom Wahlrecht ausgeschlossen sind auch der Kaufmann Ahmad Sadi aus Denzlingen (Landkreis Emmendingen) und die Kitafachkraft Puk Norwood. Sadi ist gebürtiger Iraner. Seit neun Jahren lebt er in Deutschland. Der gelernte Jurist hat sich zum Kaufmann ausbilden lassen. Nun arbeitet er in einem Freiburger Sportgeschäft. Bei der Bundestagwahl darf er aber nur "zuschauen". "Das gibt mir ein schlechtes Gefühl, weil ich mich nicht als Teil dieser Gesellschaft fühle, obwohl ich mich in Deutschland integriert habe, die deutschen Werte respektiere und schon lange hier lebe", erklärt der 39-Jährige.

Ahmad Sadi ist gebürtiger Iraner. 2016 kam der studierte Jurist nach Deutschland. Er wünscht sich, wählen zu dürfen.

Ahmad Sadi ist gebürtiger Iraner. 2016 kam der studierte Jurist nach Deutschland. Er wünscht sich, wählen zu dürfen.

Bundestagswahl 2025: Dürfen Ausländerinnen und Ausländer wählen?
Ausländerinnen und Ausländer ohne deutsche Staatsangehörigkeit haben kein aktives oder passives Wahlrecht bei Bundestagswahlen, Landtagswahlen oder Volksabstimmungen auf der Bundes- oder Landesebene. Eine Ausnahme gilt gemäß EU-Recht inzwischen für Staatsangehörige aus Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, jedoch nur für die kommunale Wahlebene. Eine Verpflichtung zur Einführung eines Wahlrechts für EU-Bürger zur Teilnahme an Wahlen auf der staatlichen Ebene, das heißt bei Wahlen zum Deutschen Bundestag oder zu den Landtagen, besteht laut Bundesinnenministerium nicht. Bundesweit waren zum Jahresende 2023 laut Statistischem Bundesamt rund 12,1 Millionen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit oder Staatenlose in Deutschland gemeldet - ohne Wahlberechtigung auf staatlicher Ebene. Im Jahr 2023 hatten rund 17,1 Millionen Menschen ab 18 Jahren und damit ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland eine Einwanderungsgeschichte. Laut Statistischem Bundesamt waren davon 7,1 Millionen über ihre deutsche Staatsbürgerschaft wahlberechtigt. Wahlberechtigte mit Einwanderungsgeschichte machten 2023 damit zwölf Prozent aller Wahlberechtigten aus. Zehn Jahre zuvor lag ihr Anteil bei neun Prozent.

Auch die Kitafachkraft Puk Norwood erlebt diese Ungleichbehandlung. Er hat US-amerikanische Eltern, ist in Deutschland geboren und in Freiburg seit jeher zuhause. In den USA darf der 37-Jährige seine Stimme abgeben, doch in Deutschland bleibt ihm dieses Recht verwehrt - ihm fehlt der deutsche Pass. "Menschen lieben, wen sie wollen, sie arbeiten, wo sie wollen. Ich denke, dass das Konzept 'Wer gehört dazu und wer nicht' überdacht werden muss", fügt er hinzu. Die Strukturen seien veraltet, betont er.

Trotz der fehlenden Teilhabe wirkt der Pädagoge keineswegs verbittert. Im Gegenteil, die politische Lage spornt ihn an, sich noch stärker zu engagieren: "Wir haben in den USA jetzt eine Oligarchie, deswegen bin ich noch motivierter, hier mitzumischen."

Die Politik repräsentiert für mich nicht die Bevölkerung. Puk Norwood, Kitafachkraft aus Freiburg

Ahmad Sadi will ebenfalls nicht resignieren: "Deutschland ist meine Heimat geworden. Mit meiner Wahl möchte ich die Demokratie in Deutschland stärken." Er fordert eine Reform des Wahlrechts. Sein Appell an die Politik lautet: "Integrierte Ausländer, die mindestens fünf Jahre in Deutschland leben und gut Deutsch sprechen, sollten wählen dürfen, unabhängig von der deutschen Staatsangehörigkeit."

Puk Norwood hat US-amerikanische Eltern. Er ist in Deutschland geboren, hat aber keinen deutschen Pass.

Puk Norwood hat US-amerikanische Eltern. Er ist in Deutschland geboren, hat aber keinen deutschen Pass.

Freiburger "Wahlkreis 100% e.V." will "Wahlrecht für alle"

Infostände, Aktionen am Wahltag, symbolische Wahllokale: Seit mehr als 20 Jahren gibt es in Freiburg die Initiative "Wahlkreis 100% e.V.". Sprecherin Ilaria De Altin erklärt: "Wir sind 2002 gestartet, damals hatten wir die Hoffnung, dass es uns nach zwei, drei Jahren nicht mehr braucht." Doch die Realität sieht anders aus. Noch immer gilt: Ohne deutsche Staatsangehörigkeit kein Wahlrecht.

De Altin fordert mit Nachdruck, dass das Wahlrecht nicht an die Staatsangehörigkeit geknüpft sein sollte, sondern an den Ort, an dem Menschen leben, Steuern zahlen oder einen anderen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Dort sollten sie auch mitbestimmen dürfen. "Wer hier lebt, gehört dazu. Unabhängig vom Pass" - so lautet eines der Mottos der Initiative. Ihr Ziel ist klar: "Wahlrecht für alle". Ein erster Schritt wäre, dass auch Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger bei den Kommunalwahlen abstimmen dürfen. Das langfristige Ziel bleibt jedoch: das Wahlrecht bei den Bundestagswahlen.

Elf Millionen Menschen in Deutschland ohne Wahlrecht

Immer wieder seien Menschen überrascht, sogar geschockt, dass so viele Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht wählen dürfen, berichtet De Altin. Diese Reaktionen erlebe sie häufig, wenn die Initiative "Wahlkreis 100% e.V." an Infoständen mit Passanten ins Gespräch kommt.

In Deutschland, so erklärt De Altin weiter, sind insgesamt elf Millionen Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen. Das seien etwa 15 Prozent der Gesamtbevölkerung. Darunter seien zum Beispiel auch viele Syrerinnen und Syrer in medizinischen Berufen. "Sie retten Leben, dürfen aber nicht wählen, das muss sich ändern", so die gebürtige Italienerin und ehemalige Klimaschutzmanagerin der Stadt Freiburg.

Wir müssen aufhören, über Migrantinnen und Migranten zu sprechen, wir müssen mit ihnen sprechen. Ilaria De Altin, Sprecherin der Freiburger Initiative "Wahlkreis 100% e.V."

De Altin gibt sich kämpferisch. Sie hat sich zur Aufgabe gemacht, für die Demokratie einzustehen. Gerade jetzt, nach der Abstimmung der CDU mit AfD im Zusammenhang mit einer verschärften Migrationspolitik. "Wir leben zunehmend in einer schwachen Demokratie. Das ist gefährlich", sagt die 57-Jährige.

Initiative "Wahlkreis 100% e.V." lässt in Freiburg symbolisch wählen
Vor der Bundestagswahl will die Initiative noch mehr Präsenz zeigen. Dazu gehören auch symbolische Wahlen: am 15., 22. und 23. Februar von 10 bis 16 Uhr vor dem Stadttheater und am 23. Februar von 10 bis 15:30 Uhr im Foyer des Stadttheaters, im Mehrgenerationenhaus (EBW) in Weingarten und bei Kommunikation & Medien in Stühlinger. Zu diesen Zeiten wird auch eine mobile Form des Wahllokals per "Bauchladen" angeboten. Zudem findet am 23. Februar ab 17 Uhr eine Wahlparty bei Südwind in der Faulerstraße 8 statt, bei der man die symbolische Wahl auszählt.

Für Wahlrecht: Deutsche Staatsangehörigkeit beantragen?

Die gebürtige Norwegerin Line Kristoffersen hat beschlossen, dass sie den Weg einer doppelten Staatsbürgerschaft einschlagen will. Die erste Hürde ist bereits genommen: Vor zwei Wochen hat sie den obligatorischen Einbürgerungstest absolviert: "Ich nehme an, dass ich den bestanden habe, weil ich hier so lange lebe und mich auch gut auskenne", sagt sie mit einem Lachen. Bei der übernächsten Bundestagswahl hofft sie, endlich ihre Kreuze setzen zu dürfen.

Es ist sehr, sehr schwierig, vielleicht utopisch die nächsten Jahre, aber es ist wichtig, nicht aufzugeben. Line Kristoffersen über den Einsatz für das "Wahlrecht für alle"

Ilaria De Altin, Sprecherin der Freiburger Initiative "Wahlkreis 100% e.V.", besitzt bereits zwei Staatsbürgerschaften. Sie ist sowohl Italienerin als auch Deutsche. Ihr Hauptantrieb, Deutsche zu werden, war der Wunsch, wählen und mitbestimmen zu können.

Mehr zum Thema Wahlrecht in der Sendung "Dazugehören durch Einbürgerung" in "Das Wissen" auf SWR Kultur vom 12. September 2024:

Sendung am Sa., 8.2.2025 9:30 Uhr, SWR4 BW Studio Südbaden

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