Ein Mädchen löst in einer Grundschule eine Matheaufgabe. (Symbolbild)

Baden-Württemberg Potenzialtest für Viertklässler: Letzte Chance aufs Gymnasium

Stand: 18.02.2025 05:31 Uhr

Er bietet die letzte Hintertür für eine Gymnasialempfehlung: der Potenzialtest. Nach dem vielen Ärger um den Kompass-4-Test wird die landesweite Prüfung mit Spannung erwartet. 

Seine Tochter ist neun Jahre alt und will es wissen. Vater Michele Gatta aus Stuttgart hat sie zum Potenzialtest am Solitude-Gymnasium in Stuttgarter Stadtteil Weilimdorf angemeldet. "Wenn sich die Gelegenheit bietet, dann nutzen wir sie", erklärt Gatta. Er habe zu ihr gesagt: "Probier‘s aus." Das Mädchen sei nicht weit weg von einer Gymnasialempfehlung. "Wenn der Test dann sagt, dass sie auf die Realschule soll, dann ist es auch etwas wert, dass wir dann da sicher sind", sagt Gatta.

Potenzialtest für Gang aufs Gymnasium: Landesweit einheitliche Prüfung

An diesem Dienstagmorgen ist es so weit: Von 9 Uhr bis etwa 10:30 Uhr werden landesweit die Kinder schriftlich geprüft, die noch aufs Gymnasium wollen, aber bisher keine Empfehlung dafür haben. Es geht um drei Teile: 20 Minuten Deutsch, 20 Minuten Mathe und 20 Minuten einen überfachlichen Teil. Wie viele der etwa 100.000 Viertklässlerinnen und Viertklässler diese Gelegenheit nutzen werden, kann das zuständige Kultusministerium nicht sagen. Gerechnet wird mit wenigen Tausend.

Martina Scherer vom Philologenverband BW sieht den Potenzialtest als eine Art Joker: "Er stellt noch mal eine Chance dar für denjenigen, der bisher verkannt wurde", sagte sie dem SWR. Die 376 allgemeinbildenden Gymnasien im Land bemühten sich nach ihrer Einschätzung, den Kindern die Prüfungssituation in einer fremden Schule so stressfrei wie möglich zu gestalten.

Verunsicherung bei vielen Eltern wegen Kompass-4-Leistungstest

Seit die Leistungstests im November reihenweise Viertklässlerinnen und Viertklässler überfordert haben, vor allem in Mathe, sind viele Kinder und Eltern in BW verunsichert. Nur ein Bruchteil der Neun- bis Zehnjährigen schaffte damals das Gymnasialniveau.

Das führte zu massiver Kritik an dem sogenannten Kompass-4-Test: Er sei zu lang, zu schwer und habe zu viele Textaufgaben. Es seien nicht selten Tränen geflossen, berichten Lehrkräfte. Viele Eltern machten sich Sorgen, dass ihr Kind nun eine schlechtere Grundschulempfehlung bekommen würde.

Schlechter Start für die neue Grundschulempfehlung der Regierung

Ein denkbar schlechter Start für die neue, verbindlichere Grundschulempfehlung. Diese hatte sich die grün-schwarze Landesregierung ausgedacht, um die Übergangszahlen von der Grundschule auf das neunjährige Gymnasium (G9) im Griff behalten zu können. G9 wird vom nächsten Schuljahr an flächendeckend und stufenweise wieder eingeführt.

Grüne und CDU hatten sich darauf geeinigt, dass an der Grundschule die Regel "2 aus 3" gelten soll. Das heißt, es gibt zum einen eine Empfehlung der Klassenkonferenz. Dazu kommt "Kompass 4". Wenn diese beiden ergeben, dass es nicht für das Gymnasium reicht, müssen die Eltern das Votum nicht akzeptieren. Wollen sie ihr Kind dennoch auf das Gymnasium schicken, muss ein verbindlicher Potenzialtest absolviert werden. Kritiker der verbindlicheren Grundschulempfehlung wie die SPD oder die Bildungsgewerkschaft GEW sprechen wegen der Prüfungen von einem "Grundschul-Abitur". 

Ärger nach Grundschulempfehlungen vielerorts wohl verflogen

Vor Kurzem wurden nun die Grundschulempfehlungen abgegeben. Nach Ansicht von Edgar Bohn vom Verband der Grundschullehrer in BW hat sich der Ärger der Eltern über den Kompass-4-Test "weitgehend wieder beruhigt". Mit der Ansage der Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne), den Test im Zweifel nicht in die Entscheidung einfließen zu lassen, hätten die Lehrkräfte gut umgehen können. Bohn geht deshalb davon aus, dass nur wenige Schülerinnen und Schüler am Potenzialtest an den Gymnasien teilnehmen werden.

Landeselternbeirat zweifelt an Qualität des Potenzialtests

Dennoch erwarten Eltern und Lehrerverbände mit Spannung, wie nun der Potenzialtest aussieht und ausfällt. Sebastian Kölsch, Vorsitzender des Landeselternbeirats, sagte dem SWR: "Meine große Befürchtung ist, dass, obwohl es Potenzialtest heißt, erneut das Wissen abgefragt wird. Damit ist es kein Potenzialtest." Aus seiner Sicht muss das Ministerium an dem Format noch etwas verändern.

Verunsicherten Eltern habe man aber auch geraten: "Es ist nicht der Gymnasialbesuch, der zum Lebensglück dazu gehört." In Baden-Württemberg gebe es zum Glück ein durchlässiges Schulsystem, in dem es kein Problem sei, etwa in der Werkrealschule zu starten und dann noch das Fachabitur zu machen.

Strengere Grundschulempfehlung soll Überfüllung von Gymnasien vorbeugen

Grund für die Wiedereinführung der strengeren Grundschulempfehlung ist das Comeback des neunjährigen Gymnasiums zum nächsten Schuljahr und die Sorge, dass G9 überlaufen werden könnte. Internen Prognosen zufolge könnten nach der G9-Einführung im Schuljahr 2025/2026 etwa 60 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler auf das Gymnasium wechseln. Bisher sind es 45 Prozent. Dann würden die Gymnasien aus allen Nähten platzen, während andere Schulen Klassen schließen müssten.

Aber woher kämen die vielen neuen Schülerinnen und Schüler? Bislang sind 25 Prozent der Realschülerinnen und Realschüler, die eigentlich eine Empfehlung für das Gymnasium hatten, vor dem auch als "Turbo-Abi" bezeichneten achtjährigen Gymnasium zurückgeschreckt. Von den Kindern, die auf die Gemeinschaftsschule wechselten, hatten zuletzt 14 Prozent eine Empfehlung für das Gymnasium. Um zu verhindern, dass nun alle G9 bevorzugen, soll der Schülerstrom besser gesteuert werden.

Bei der Grundschulempfehlung hat die Regierung eine Rolle rückwärts vollzogen. Seit dem Schuljahr 2012/2013 war die Empfehlung der Lehrkräfte nicht mehr verbindlich, sondern die Eltern konnten selbst entscheiden.

Wenn Kinder den Sprung aufs Gymnasium nicht direkt schaffen, können sie aber von anderen Schulformen dorthin wechseln - so die Voraussetzungen stimmen.

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