Eine Praxismitarbeiterin nimmt der Patientin Sarah Kiene Blut ab. Sie hat über ein Jahr lang einen Facharzt gesucht.

Baden-Württemberg Warum Ärzte Kassenzulassungen zurückgeben und Kranke quälend lange auf Termine warten

Stand: 10.02.2025 10:00 Uhr

Mal schnell zum Arzt? Das geht schon lange nicht mehr. Ob leichte Bronchitis oder seltene Hautkrankheit: Auf einen Arzttermin müssen Kassenpatienten mitunter monatelang warten.

"Ich wünsche mir eine bessere, flächendeckende fachärztliche Versorgung - vor allem in ländlichen Gebieten. Und gleichen Zugang für alle Patienten." Sarah Kienes Körper kämpft gegen sich selbst. Die 26-Jährige hat Morbus Behçet. Das ist eine Krankheit, bei der das eigene Immunsystem die Blutgefäße angreift. Um diese Diagnose musste sie kämpfen - rund ein Jahr lang hat sie keinen Arzt gefunden, der sie behandeln kann.

Eine junge Frau steht vor einer Hausarztpraxis. Sie hat über ein Jahr lang nach einem Rheumatologen gesucht.

Sarah Kiene hat eine seltene Krankheit: Ihr Immunsystem greift ihre Blutgefäße an.

Die Gesundheitsversorgung in Deutschland ist ein Thema, das alle Menschen betrifft und das zunehmend zum Reizthema wird. Nicht nur, aber besonders in ländlichen Regionen. Ob leichte Bronchitis oder seltene Hautkrankheit, ob Augenleiden oder Rückenschmerzen: Die Suche nach einem Arzt oder einer Ärztin wird in vielen Gegenden immer schwieriger, und auf Termine müssen Kassenpatienten und -patientinnen mitunter monatelang warten. Überlaufene Praxen verhängen Aufnahmestopps, ältere Ärzte finden für ihre Praxis keine Nachfolger, Kranke haben das Nachsehen und brauchen viel Geduld. Ist das Kassensystem selbst zum Patienten geworden?

Lange Arztsuche wegen Immunkrankheit

Vor etwa drei Jahren ist die Krankheit bei Sarah Kiene ausgebrochen. Auslöser sei vermutlich eine Corona-Infektion gewesen, sagt sie. Von einem Tag auf den anderen habe sie Fieber, Gelenkschmerzen und Ausschlag am ganzen Körper bekommen. Monatelang litt sie unter den Beschwerden und ging kaum noch aus dem Haus. In ihrem Beruf als Krankenschwester war sie immer wieder krankgeschrieben. "Zusammengerechnet waren das bestimmt drei Monate", so Kiene.

Kein Facharzt im Zollernalbkreis verfügbar

Nach einem Besuch beim Hausarzt war klar: Kiene musste dringend zum Facharzt, einem Rheumatologen. Das Problem: Im Zollernalbkreis gab es dafür keine Praxis, die Kassenpatienten behandelt. Sie musste in anderen Landkreisen suchen.

Wie kann es sein, dass es im Zollernalbkreis keinen Rheumatologen für Kassenpatienten gibt?
Ein Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) hat dem SWR erklärt: Das kann an der Bedarfsplanung liegen. In der Bedarfsplanung zählen Rheumatologen zur Gruppe der "Fachinternisten". Umgekehrt ist aber nicht jeder Internist auch ein Rheumatologe. In der Bedarfsplanung wird diese Unterscheidung aber nicht gemacht. Wenn es in einer Region ausreichend viele Internisten gibt, fällt in der Statistik nicht auf, dass darunter kein Rheumatologe ist. Die Bedarfsplanung legt fest, wie viele Kassenärztinnen und -Ärzte sich in einer Region niederlassen dürfen. Die Richtlinie in ihrer heutigen Form hat der Bundesregierung 1993 eingeführt. Damals gab es in Deutschland deutlich mehr Ärzte als heute - man wollte eine Überversorgung verhindern.

Kiene: Untersuchung beim Arzt war "Massenabfertigung"

"Ich hab dann meinen Suchradius immer weiter ausgebreitet, bis ich wirklich in ganz Baden-Württemberg Praxen angefragt habe", sagt sie, aber erfolglos. Viele der Ärztinnen und Ärzte hatten entweder Aufnahmestopp, nahmen nur noch Patientinnen und Patienten aus dem eigenen Landkreis an oder betrachteten Kienes Laborwerte nicht als Notfall. Die Sprechstunden, die sie bekommen hat, blieben ergebnislos. Untersuchungen hätten meist nur etwa fünf Minuten gedauert. "Ich hatte nicht wirklich das Gefühl, dass auf mich eingegangen wird. Es war eher wie eine Massenabfertigung", sagt sie.

Aber es sind nicht die Ärztinnen und Ärzte, von denen Kiene enttäuscht ist. Sie glaubt, dass das Problem tiefer liegt: im Gesundheitssystem. Und das müsse sich ändern. Die Regierung solle sich etwa dafür einsetzen, dass es auch auf dem Land genügend Fachärzte gibt, sagt sie mit Blick auf die bevorstehende Bundestagswahl. Es könne nicht sein, dass man eine Stunde oder länger zur nächsten Praxis fahren muss. Außerdem sagt sie, mit einem akuten Notfall sollte man nicht monatelang auf einen Termin warten müssen. Da sollte auch kein Unterschied zwischen gesetzlich und privat Versicherten gemacht werden.

Lesermeinungen zur Reform des Gesundheitswesens, Privatpatienten und Ärztemangel
Wir haben die Nutzerinnen und Nutzer von SWR Aktuell BW gefragt, was sie vor der Bundestagswahl bewegt. Hunderte Nachrichten haben uns erreicht - auch zum Thema Gesundheitswesen. Für Reinhold Goth aus Kippenheim (Ortenaukreis) ist es "schwer verständlich, was im Gesundheitswesen gerade passiert". "Die Kosten explodieren, folglich steigen die Kassenbeiträge, Kliniken kommen in Schieflage, sollen geschlossen werden und dennoch werden im ganzen Land neue Kliniken geplant und gebaut. Klingt irgendwie schizophren", so Goth. Er schrieb uns, dass er erwarte, dass das Gesundheitswesen "vernünftig reformiert wird" - und zwar "nicht nach rein ökonomischen, sondern nach menschlichen pragmatischen Gesichtspunkten". Goth schlägt vor, dass dabei auch "ganz wertneutral die Zwei-Klassen-Medizin unter die Lupe genommen" wird. Seiner Meinung nach kann es nicht sein, "dass ich als Kassenpatient vielleicht in acht Wochen einen Termin bekomme, wenn ich mich aber als Privatpatient oute, kann ich morgen schon kommen. Von den Abrechnungen im Privatbereich mal ganz abgesehen". Trotz Privatversicherung keinen Hausarzt im Kurort Obwohl sie privat versichert seien, finden Beate Kullmer und ihr Mann nach eigenen Angaben keinen Hausarzt in Bad Rappenau (Kreis Heilbronn). Sie seien beide 72 Jahre alt und in einen Kurort gezogen, schrieb sie uns. "Ich wünschte, dass es eine Arbeitspflicht hier in Deutschland gibt, für zum Beispiel Mediziner, die hier in Deutschland studiert haben. Vielleicht fünf Jahre", so Kullmer. Beate Krieg aus Laichingen (Alb-Donau-Kreis) ist es wichtig, dass die neue Bundesregierung die Gesundheitsversorgung flächendeckend sichert und ausbaut. Das betreffe "die Hausarztversorgung, die Notarztversorgung und Facharztversorgung im ländlichen Raum und vor allem die Sicherung von Krankenhausstandorten". Versorgung im ländlichen Raum Judith Benner aus Alpirsbach (Kreis Freudenstadt) bemängelt, dass die medizinischen Angebote im ländlichen Raum massiv ausgedünnt werden. "Ohne Rücksicht auf die immer älter werdende Bevölkerung", die "ohne Hausarzt und mit einem Anfahrtsweg von mehr als 40 Minuten zum nächsten Krankenhaus leben muss", so Benner. "Kinderärzte: Fehlanzeige. Hebammen: Fehlanzeige. Frauenärzte: Fehlanzeige. Notfallambulanzen: Fehlanzeige", zählt sie auf. Und Benner verweist auf Patienten wie die "bereits mehrfach belasteten Mütter", die oft eine Odyssee auf der Suche nach einem Kinder- oder Frauenarzt hinter sich hätten. Etwas, das man sich im dichtbesiedelten Berlin nicht vorstellen könne. Autorin: Samantha Ngako

Dr. Peter Wolf aus Mosbach: Selbstzahler-Praxis als "Befreiung"

Wenn es genügend Fachärztinnen und Fachärzte auch in ländlichen Regionen gäbe, dann würde vermutlich auch Peter Wolf inzwischen seinen Ruhestand genießen. Jetzt, mit Mitte Sechzig, hätte der Mediziner aus Mosbach im Neckar-Odenwald-Kreis aufhören und seine Hautarzt-Praxis an einen Nachfolger übergeben können. "Aber ein Nachfolger ist weit und breit nicht in Sicht", sagt Wolf. Und wenn er die Praxis einfach geschlossen hätte? "Wo würden dann meine Patienten Termine bekommen?", fragt er. Also macht Wolf weiter mit der eigenen Praxis. Jetzt aber ohne Kassenzulassung, die hat er abgegeben.

Hautarzt Peter Wolf aus Mosbach (Neckar-Odenwald-Kreis) hat seine Kassenzulassung zurückgegeben und behandelt nur noch Selbstzahler.

Hautarzt Peter Wolf aus Mosbach (Neckar-Odenwald-Kreis) hat seine Kassenzulassung zurückgegeben und behandelt nur noch Selbstzahler.

Peter Wolf behandelt inzwischen nur noch Selbstzahler und macht sich damit also unabhängig von der Gesetzlichen Krankenversicherung. "Vor 20 Jahren hätte ich das nicht gemacht", sagt Wolf. Aber jetzt, "in der letzten Phase meiner Berufstätigkeit" wollte er sich von den Vorgaben der Kasse "befreien".

Rund ein Viertel über 60 Jahre: Ärzte werden immer älter
Die Zahl der berufstätigen Medizinerinnen und Mediziner ist nach Angaben der Landesärztekammer Baden-Württemberg bis zum Jahresende 2023 leicht angestiegen. Demnach hat sie im Vergleich zu 2022 um 1,3 Prozent zugenommen: 2022 waren es 54.374 berufstätige Ärztinnen und Ärzte im Land, ein Jahr später 55.083. Auch im ambulanten und stationären Bereich sind etwas mehr Ärztinnen und Ärzte tätig als im Vorjahr. 2023 gab es in Baden-Württemberg 853 Berufstätige Ärztinnen und Ärzte im Bereich Haut- und Geschlechtskrankheiten. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Anstieg von 1,7 Prozent. Im Bereich innere Medizin, zu dem Rheumatologen gehören, arbeiteten 7.485 Ärztinnen und Ärzte. Auch ist ein leichter Anstieg von 1,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu beobachten. Nach Angaben der Landesärztekammer werden die berufstätigen Ärzte aber immer älter. Rund ein Viertel der berufstätigen Ärzte waren 2023 über 60 Jahre alt. Die Kassenärztliche Vereinigung in Baden-Württemberg (KVBW) hat im September 2024 darauf aufmerksam gemacht, dass fast 1.000 Hausarztstellen in Baden-Württemberg nicht besetzt sind. Der demographische Wandel betrifft nicht nur Ärztinnen und Ärzte.

Facharzt bekommt Druck von beiden Seiten

Wolf sagt: Die berechtigten Erwartungen der Patientinnen und Patienten auf der einen Seite, die Erwartungen und Vorgaben der Krankenkasse auf der anderen Seite - das habe immer wieder zu Konflikten geführt, "das war oft einfach nicht übereinander zu bringen." Die Einschränkungen, die durch die oft strengen Vorgaben der Kassen entstehen, hätten ja nur selten etwas mit medizinischen Erwägungen zu tun - sondern mit wirtschaftlichen Fragen. Mit dem Patienten nach der besten Lösung für sein gesundheitliches Problem suchen, die Erkrankten begleiten, beraten, ihnen alle denkbaren Behandlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, ohne zuallererst wirtschaftlich zu denken - darum gehe es ihm, sagt Wolf. Der Schritt raus aus dem Kassensystem sei jetzt so etwas wie eine "Befreiung".

Patienten wollen keine unnötigen Kosten verursachen, sie wollen gut behandelt werden. Peter Wolf, Hautarzt aus Mosbach, Neckar-Odenwald-Kreis

Natürlich hatte der Mosbacher Mediziner zunächst Sorge, dass ihm seine Patientinnen und Patienten in Scharen davonlaufen würden, wenn sie Termine mit ihm zukünftig selbst bezahlen müssen. "Ich bin überrascht, wie viele mir treu geblieben sind, weil sie eben meine Art der Behandlung und Begleitung in den vergangenen Jahren schätzen gelernt haben", sagt er. Und noch etwas ist eingetreten, womit er nicht gerechnet hatte: "Es kommen plötzlich viele neue Patienten, die anderswo Monate auf einen Hautarzttermin warten müssen. Bei uns in der Praxis können wir inzwischen wirklich zeitnah Termine anbieten." So kommen mitunter Patienten aus einem 100-Kilometer-Radius. Hauptsache, sie bekommen endlich einen Facharzt-Termin.

Hautarzt Peter Wolf aus Mosbach (Neckar-Odenwald-Kreis) hat seine Kassenzulassung zurückgegeben und behandelt nur noch Selbstzahler.

Hautarzt Peter Wolf aus Mosbach (Neckar-Odenwald-Kreis) hat seine Kassenzulassung zurückgegeben und behandelt nur noch Selbstzahler.

Ärztemangel führt Kiene 300 Kilometer in die Ferne

Für Sarah Kiene aus dem Zollernalbkreis ist die Odyssee vorerst vorbei. Sie hat über Facebook einen Rheumatologen im bayerischen Erlangen gefunden, der sie als Patientin aufgenommen hat. Dort fährt sie alle zwölf Wochen zur Untersuchung hin, 300 Kilometer weit. Sie bekommt Immunblocker und Blutverdünner. Schmerzmittel für ihre Gelenke brauche sie nur noch "an den schlechten Tagen", wie sie sagt. Ihr Leben kann sie wieder halbwegs normal führen. Die Krankheit wird sie aber für immer begleiten.

"Zugehört" - Unsere Serie zur Bundestagswahl in Baden-Württemberg
Am 23. Februar ist Bundestagswahl. Die Parteien und ihre Spitzenkandidaten und -kandidatinnen werben um die Wähler-Gunst und versuchen mit ihren Themen zu punkten. Doch was bewegt die Bürgerinnen und Bürger? Wir haben den Menschen in Baden-Württemberg "zugehört". Weitere Artikel werden in den kommenden Tagen veröffentlicht.

Sendung am Mo., 10.2.2025 19:30 Uhr, SWR Aktuell Baden-Württemberg, SWR BW

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