Erwachsene und Kinder in einer Straße beim Demonstrieren für bessere Kinderbetreuung. Jemand hält ein Schild hoch mit der Aufschrift "Qualität statt Aufbewahrung".

Hessen Bundestagswahl: Darmstadt schlägt neuen Weg aus Kita-Krise ein

Stand: 19.02.2025 17:03 Uhr

Massiver Personalmangel bringt das System Kinderbetreuung vielerorts ins Wanken. Die Stadt Darmstadt räumt ein, den Rechtsanspruch auf einen Platz nicht erfüllen zu können - und geht nun einen eigenen Weg.

Von Julian Moering

Den Kitas geht es nicht gut. An allen Ecken und Enden fehlt Personal, Erzieherinnen und Erzieher sind stark belastet, die Qualität leidet. Notbetreuungen sind mehr Regel denn Ausnahme, trotz Rechtsanspruch finden viele Eltern keinen Betreuungsplatz. Über allem schwebt der Fachkräftemangel, der den zuständigen Kommunen stark zusetzt. Darmstadt geht nun einen eigenen Weg - der nicht unumstritten ist.

"Wir haben die Betreuungszeiten gekürzt", erklärt Bürgermeisterin und Sozialdezernentin Barbara Akdeniz (Grüne) im Gespräch mit dem hr. Beim Ganztagsmodell wurde eine Stunde gestrichen, statt 50 Stunden in der Woche enthält das Paket nur noch 45 Stunden. Der Preis blieb gleich. "Damit wollen wir den Flickenteppich an Notbetreuungen abschaffen und ein zwar reduziertes, dafür aber verlässliches Betreuungsangebot schaffen", so Akdeniz.

Die Regelung gilt seit November 2024 einheitlich für alle Kitas in der Stadt, auch für jene in privater Trägerschaft, zum Beispiel von Arbeiterwohlfahrt (AWO), Arbeiter-Samariterbund (ASB) und Kirchen. "Wir haben es hier in Darmstadt geschafft, alle Träger an einen Tisch zu bringen und gemeinsam eine Entscheidung zu treffen", sagt Akdeniz. Auf dieses "Zeichen der Solidarität" sei sie stolz.

Weniger Betreuung, mehr Qualität

Es handele sich dabei um eine wohlüberlegte Entscheidung, die mit Blick auf die aktuelle Situation getroffen worden sei. "Durch die Reduzierung der Betreuungszeit wollen wir das Personal entlasten und die Qualität erhalten", betont die Sozialdezernentin. Qualitätsverluste seien nicht nur für die Kinder und Eltern von Nachteil, bei zu schlechten Arbeitsbedingungen drohe auch das Personal abzuwandern. Ein Teufelskreis, den Darmstadt zu durchbrechen versucht.

Die Kommunen sind dafür verantwortlich, ausreichend Plätze in der Kinderbetreuung zur Verfügung stellen, das Personal dafür zu finden und die Einrichtungen in Schuss zu halten. Eine Mammutaufgabe, findet Akdeniz.

"Können Rechtsanspruch der Eltern derzeit nicht erfüllen"

Rund 120 Millionen Euro gab die Stadt vergangenes Jahr für Kinderbetreuung aus. Bei ihrem Amtsantritt im Jahr 2011 seien es 30 Millionen Euro gewesen. "Unser größtes Problem ist und bleibt aber, ausreichend Fachkräfte zu finden", sagt Akdeniz.

Rund 50 Stellen seien in Darmstadt derzeit unbesetzt, sagt Imke Jung-Kroh, Leiterin des Jugendamts. Dadurch könnten etwa 260 theoretisch vorhandene Betreuungsplätze nicht vergeben werden. "Wir können den Rechtsanspruch der Eltern auf einen Betreuungsplatz derzeit nicht erfüllen", räumt die Amtsleiterin ein.

Eine Situation, wie man sie in ähnlicher Form in vielen Kommunen vorfindet. In ganz Hessen sind nur noch 36 Prozent aller Teams in den rund 4.000 Kitas mit ausreichend Fachkräften ausgestattet. Mehr als 10.000 Stellen für Erzieherinnen und Erzieher sind unbesetzt.

Eltern kritisieren Modell

Die ersten Rückmeldungen aus den Kitas in Darmstadt seien überwiegend positiv, erzählt Akdeniz. Derzeit laufe eine Auswertung des Projekts, das vorerst bis Ende April laufen soll. Aus den Reihen der Eltern kommen dagegen weniger positive Reaktionen.

"Viele stellt die Reduzierung der Öffnungszeiten vor große Probleme", sagt Tara Rensch-Hewitt, stellvertretende Vorsitzende des Darmstädter Hauptelternbeirats, in dem alle städtischen Kitas organisiert sind. So könnten etwa Lehrkräfte ihre Kinder nicht einfach eine halbe Stunde oder Stunde später in die Kita bringen. Auch bei Menschen mit anderen Berufen gebe es Probleme. "Nicht jeder hat eine Oma oder einen Opa, die in der Not einspringen."

Viele Eltern hätten zwar Verständnis für die angespannte Situation, in der sich die Stadt befindet. Eine Lösung auf Dauer könne das Modell aber nicht sein, sagt Rensch-Hewitt: "Es wird den Bedürfnissen der Eltern nicht gerecht."

Neues Kita-Gesetz zielt auf Personalgewinnung

Um den Bedürfnissen in Kitas und anderen Einrichtungen der Kinderbetreuung in Zukunft gerecht werden zu können, hat der Bund eine Weiterentwicklung des sogenannten Kita-Qualitätsgesetzes beschlossen, die seit Anfang des Jahres gilt. Das bedeutet unter anderem, dass der Bund den Ländern in den Jahren 2025 und 2026 insgesamt vier Milliarden Euro zur Verfügung stellt, um die Qualität in Kindertagesstätten zu verbessern.

Geld gab es auch in den Jahren zuvor schon. Neu ist allerdings, dass es nun hauptsächlich in das vorhandene Personal und in die Gewinnung neuer Fachkräfte investiert werden soll. Es darf beispielsweise nicht mehr dazu verwendet werden, Kitagebühren zu senken.

Land will Kitas und Kommunen unterstützen

Ein Auftrag, den das Land Hessen ernst nimmt, wie Sozialministerin Heike Hofmann (SPD) im Gespräch mit dem hr sagt. Stärkung der vorhandenen Teams in den Kitas und Gewinnung neuen Personals seien Hauptanliegen. Das Land will 2025 und 2026 insgesamt 88 Millionen Euro in die Hand nehmen.

Mit dem Geld sollen die Einrichtungen gezielt bei der Bewältigung ihrer Aufgaben unterstützt werden. "Wir setzen zum Beispiel das Förderprogramm 'Starke Teams, starke Kitas' fort", sagt Hofmann. Auch das Förderprogramm "Sprach-Kitas" läuft nach Auskunft der Ministerin zumindest bis Ende 2026. Zudem sollen Kommunen nach dem Willen der Ministerin in Zukunft die Möglichkeit erhalten, zinsgünstige Kredite beim Land für Bauprojekte aufzunehmen.

Land stellt 800 Assistenzkräfte

Ein weiteres Förderprogramm zielt auf die Gewinnung neuen Personals ab, so Hofmann. Seit 2020 seien dort 200 Millionen Euro investiert worden. In diesem Zuge appellierte der Hessische Städte- und Gemeindebund erst vor wenigen Tagen an die Landesregierung, die bürokratischen Hürden abzubauen und den Zugang zu Kita-Berufen zu erleichtern. Die Vorgaben für notwendige Aus- und Fortbildungen müssten flexibler werden, heißt es in einer Mitteilung.

Hofmann hat jüngst eine weitere Maßnahme zur personellen Stärkung der Kitas vorgestellt: 800 sogenannte Assistenzkräfte für nicht-pädagogische Tätigkeiten will das Land anstellen und bezahlen. "Diese Menschen sollen das pädagogische Personal in den Kitas entlasten, indem sie etwa helfen, das Mittagessen vorzubereiten, den Tisch zu decken oder Spielzeuge aufzuräumen", erklärt die Ministerin. Im Sommer soll es losgehen.

"Wir brauchen niemanden, der den Tisch abwischt"

Für Barbara Akdeniz ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. "Wir brauchen niemanden, der mal schnell den Tisch abwischt", sagt die Darmstädter Sozialdezernentin. Vielmehr brauche es ausgebildetes Personal, das seinen Job gelernt hat.

Nur so könnten die Kommunen ihrem Bildungsaftrag in der Kinderbetreuung gerecht werden, betont Akdeniz: "Wir wollen Kinder nicht einfach nur betreuen, wir wollen ihnen helfen, sich zu selbstbewussten, selbstständigen jungen Menschen zu entwickeln." Das gehe nur mit Fachpersonal. Das sieht auch Elternbeirätin Rensch-Hewitt so. Mit Blick auf die Assistenzkräfte sagt sie: "Ich glaube nicht, dass das den Kitas wirklich hilft."

In einem sind sich sowohl Akdeniz als Vertreterin der Stadt als auch Rensch-Hewitt als Stimme der Eltern und Landesministerin Hofmann einig: Die Probleme werden nicht einfach so verschwinden, Kinderbetreuung wird sich weiter verändern. Oder um es in den Worten von Ministerin Hofmann zu sagen. "Wir müssen neue Wege gehen." Darmstadt hat sich aufgemacht. Ob es ein erfolgreicher Weg ist, wird die Zeit zeigen.