Lehrerin an digitalem Whiteboard macht Matheaufgaben vor Kindern, die sich melden

Hessen Experten-Kritik: Studierende nicht als Vertretungslehrer einsetzen

Stand: 02.06.2025 09:45 Uhr

Studentische Vertretungslehrkräfte unterrichten schon in der Schule, bevor sie alle Qualifikationen dafür erworben haben. Zwei Experten erklären, warum sie das kritisch sehen.

Von Sonja Fouraté

Wenn angehende Lehrkräfte zum ersten Mal vor einer Klasse stehen, müssen sie sich ganz praktisch mit Fragen beschäftigen, die sie vorher überwiegend theoretisch behandelt haben.

Zum Beispiel: Warum stören manche Kinder den Unterricht? Ist es besser, diese Kinder zu ignorieren oder sich ihnen extra zu widmen? Oder: Wie viel Zeit sollte die Klasse mit dem Buch arbeiten und wie oft kann die Arbeit freier gestaltet werden?

Wie sie den Unterricht gut strukturieren, auf Schülerinnen und Schüler am besten eingehen und auch in schwierigen Klassen die Kontrolle behalten – das lernen Studierende eigentlich vor allem nach dem Studium im Referendariat.

Immer mehr Studierende arbeiten in Vertretung

Das dauert in Hessen für alle Lehrämter 21 Monate und schließt mit dem Erwerb der Zweiten Staatsprüfung ab. In dieser Zeit wird der Lehrkräfte-Nachwuchs eng von Mentorinnen und Mentoren betreut.

Der Lehrermangel ist in bestimmten Bereichen allerdings so groß, dass immer mehr Lehramtsstudierende als Vertretungslehrkräfte arbeiten, nach Schätzungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sind es rund 5.000.

hessenschau.de berichtete Anfang Mai von der 22 Jahre alten Alena, die in einer Grundschule in Bad Vilbel (Wetterau) arbeitet. Sie schätze es, so früh Praxiserfahrung zu sammeln, berichtete die 22-Jährige.

"Kein Medizinstudent würde eine Herz-OP machen"

Für Experten ist so ein früher Einsatz allerdings zweischneidig. Er sehe den Druck, der auf den Schulen laste, möglichst wenig Unterricht ausfallen zu lassen, sagt etwa Thilo Hartmann, der Geschäftsführer der GEW-Hessen.

Studierende seien aber noch nicht fertig ausgebildet und träten mitunter unüberlegt eine Vertretungsstelle an. "Man kann nicht, nur weil man selbst schon einmal in der Schule war, all das wissen, was man erst nach einem abgeschlossenen Studium wissen kann – sonst bräuchte man die Ausbildung ja nicht", betont Hartmann.

In anderen Berufen sei ein Einsatz nicht fertig ausgebildeter Menschen undenkbar. "Man würde keinen Jura-Studenten im Gericht Recht sprechen und keinen Medizinstudenten eine Herz-OP machen lassen."

"Brauchen uns über Bildungsdaten nicht zu wundern"

Dass die Qualität des Unterrichts einen entscheidenden Einfluss auf die Lernprozesse und damit auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler hat, sei inzwischen gut mit wissenschaftlichen Daten belegt, weiß Birgit Ziegler, Professorin für Berufspädagogik und Berufsbildungsforschung an der TU Darmstadt. Ziegler ist Mitglied der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK).

Sie warnt: "Wenn wir auf Professionalität der Lehrkräfte keinen Wert legen, dann brauchen wir uns über unsere aktuellen Bildungsdaten nicht zu wundern."

PISA
Im jüngsten PISA-Test waren die Kompetenzen der 15-Jährigen in Deutschland in allen Bereichen auf die niedrigsten Werte gesunken, die hierzulande im Rahmen dieser Studie je gemessen wurden.

Studierende wegen des Personalmangels oft allein gelassen

Gewerkschaften und Lehrerverbände betonen, dass eine enge Begleitung der Studierenden extrem wichtig sei. Doch allzu oft würden die jungen Menschen eben wegen des Personalmangels allein gelassen. Dabei sei es fundamental, Stunden nachzubesprechen, bestimmte Situationen im Klassenzimmer zu analysieren und zu überlegen, wie der oder die Lehrende besser hätte reagieren können. 

"Die ersten Jahre vor einer Klasse können durchaus hart sein", sagt Hartmann. "Man muss zum Beispiel lernen und reflektieren, dass man sich in einem Machtgefüge befindet, dass man in einer Rolle und nicht als Persönlichkeit vor der Klasse steht."

Würde der Unterricht der Studierenden nicht begleitet, könnten diese sich durch störende Schüler persönlich angegriffen fühlen – und Negativspiralen entstehen, sagt Hartmann.

"Nicht alle Schülerinnen und Schüler lernen gleich"

Inhaltlich bräuchten junge Lehrkräfte eine ganze Reihe an Methoden, um den Unterricht gut gestalten zu können. Sie müssten voraussehen, wo bei den Kindern und Jugendlichen Verständnisprobleme und (Denk-)Fehler entstehen können, ergänzt Ziegler. Das könne jungen Lehrerinnen und Lehrern am Anfang schwerfallen, da sie ihre Studienfächer üblicherweise nach eigenen Vorlieben und Erfolgen auswählten.

Es sei wichtig, den Stoff so aufzubereiten, dass alle ihn verstehen, denn "es lernen nicht alle Schülerinnen und Schüler gleich", erklärt Ziegler. "Wir wissen immer besser, dass es zum Beispiel nicht reicht, den Stoff nur vorzutragen. Das allein führt nicht dazu, dass Schüler zum Beispiel Querverbindungen in andere Themengebiete herstellen." Und Sprache vermittle sich dabei anders als etwa Mathe oder Biologie.

Viele Studierende seien schon zufrieden, wenn die Klasse nur ruhig war, doch das sage nichts über die Unterrichtsqualität aus, so Ziegler.

Expertin: Eingeschliffenes lässt sich nur schwer ändern

Besonders wichtig sei all dies in Haupt-, Real-, und Gesamtschulen. Hier arbeiteten aber besonders viele nicht fertig ausgebildete Lehrkräfte oder Quereinsteiger, weil der Mangel am größten sei, sagt Hartmann. Doch gerade hier seien die jungen Lehrkräfte am schnellsten überfordert und die Abbruchrate hoch.

Wenn die Studierenden dagegen das Gefühl hätten, sie können etwas bereits, dann kämen sie auch aus Zeitgründen oft nicht mehr in die entsprechenden Seminare an der Uni. "Dinge, die erst einmal eingeschliffen sind, lassen sich aber nur schwer wieder ändern", betont Ziegler.

Ministerium: Qualitätskontrolle "sinnvollerweise bei Schulleitungen"

Das Kultusministerium schreibt zum Thema Qualitätssicherung auf Nachfrage: "Studierende arbeiten seit jeher und auch aktuell zum Beispiel im Fall einer Elternzeitvertretung an den hessischen Schulen. Dies ändert selbstverständlich nichts an den verpflichtenden Qualitätsstandards der universitären Ausbildung." Zudem gebe es Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten der hessischen Lehrkräfteakademie.

Die Qualitätskontrolle der Arbeit aller Lehrkräfte und auch die Fortbildung(en) von Kompetenzen in den Schulen liege "sinnvollerweise bei den Schulleitungen, weil diese Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und weitere strukturelle Bedingungen in ihren Schulen kennen und einordnen können".

Expertin: Mehr wissenschaftliche Daten erheben

Expertin Ziegler fordert, wissenschaftliche Daten zum Einsatz von Studierenden und Quereinsteigern zu erheben, bislang sei die Datenlage zu den Auswirkungen auf die Unterrichtsqualität sehr dünn.

Zudem verweist sie auf die Empfehlungen der SWK zum Lehrkräftemangel: Wichtig sei es, zunächst das Potenzial fertig ausgebildeter Lehrkräfte so weit wie möglich auszureizen, etwa durch die Senkung der hohen Teilzeitquoten oder die bessere Integration ausländischer Lehrkräfte.

Und wo eine (enge) Betreuung der Studierenden nicht möglich sei, sollten diese primär erfahrenen Lehrkräften assistieren – zum Beispiel bei der Betreuung einzelner Schüler und Gruppen oder bei der Korrektur von Klassenarbeiten.