
Niedersachsen Kommentar: Landesbischof lehnt Rücktritt ab - eine Frage der Qualität
Es sollte ein Aufbruchssignal nach dem Kirchentag werden: Wir wollen verstehen, wir hören zu, wir handeln. Aber was sich beim Thema "sexualisierte Gewalt" in der hannoverschen Synode zugetragen hat, war über weite Strecken ein Trauerspiel.
Betroffene sexualisierter Gewalt dürfen bei der Synode, obwohl sie es ausdrücklich möchten, bislang nicht selbst sprechen. Die sonst so diskussionsfreudige Kirche ist in diesem Punkt bislang hart. Da mag noch so viel von "einladender Kirche", "Gastfreundschaft", "bereichernden Begegnungen" gesprochen werden. Anwälte des Publikums verlesen also Mails von Betroffenen, fassen Äußerungen zusammen, spitzen zu. Zu hören war von massiven Enttäuschungen, Verletzungen und dem Vorwurf kirchlichen Korpsgeists.
"Keiner. Null. Nada" meldete sich bei Betroffener
Eine Betroffene beklagte, dass sie nach einem Austausch mit Synodalen vor einem Jahr in Loccum (Landkreis Nienburg) in der Hoffnung nach Hause gefahren sei, diese würden sich bei ihr melden. Diesen Eindruck habe sie zumindest aufgrund der lebhaften Debatte mitgenommen. Doch niemand habe sich danach bei ihr gemeldet. "Keiner. Null. Nada", schrieb sie. Eine hörende, wissbegierige, mitfühlende Kirche sieht anders aus. In der Fülle der vorgetragenen Äußerungen der Betroffenen wurde deutlich: Das sind keine Einzelmeinungen. Und die Synode?
Ist Meister noch der Richtige im Amt?
Die Kirchenparlamentarier brachten nicht den Willen und auch nicht die Kraft auf, im großen Plenum über eine Frage zu debattieren, die seit mehr als einem Jahr im Raum steht: Ist Landesbischof Ralf Meister noch der Richtige im Amt? Er repräsentiert die hannoversche Landeskirche seit rund 14 Jahren. Eine Kirche, die dem Thema Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und auch strukturell abgesicherter Empathie für Betroffene quälend lange Jahre ein Maß an Aufmerksamkeit schenkte, das im schroffen Gegensatz stand zur Stärke und Finanzkraft der größten evangelischen Landeskirche in Deutschland.
Betroffene mit ganz eigener Autorität
Kein Synodaler wagte es nun, den Wunsch von Betroffenen aufzugreifen, eine öffentliche Debatte darüber zu beginnen, ob der Landesbischof einem möglichen Aufbruch seiner Kirche durch persönliche Fehler entgegenstehen könnte. Dabei hatte der Landesbischof vor einem Jahr selbst gesagt: Die Anklage der Betroffenen sei "für ihn eine einzigartige Anklage, eine Autorität sui generis." Nur: Was folgt daraus für ihn persönlich?
15 Jahre nach Missbrauchsskandal: Betroffene sollen selbstbestimmt sprechen können
Statt persönlicher Konsequenzen arbeitet man sich auf der Synode am Aktenstück 99B ab und stimmt zumindest einem Antrag zu, der es Betroffenen endlich ermöglichen soll, im Herbst auf der Synode der Landeskirche selbstbestimmt sprechen zu können. Im Jahr 2025 - 15 Jahre nach dem Missbrauchsskandal und fast zwei Jahre nach der ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche. 120.000 ehren- und hauptamtliche Mitarbeitende sollen bis Ende 2026 für den Umgang mit sexualisierter Gewalt geschult werden.
Unterschiedliche Schicksale, eine Forderung
Die analytische Schärfe, mit der die Betroffenen in ihren Stellungnahmen vor und während der Tagung den Synodalen mitsamt Präsidium und Kirchenleitung die Leviten lasen, war beeindruckend und verstörend zugleich. Bemerkenswert war, dass die Stimmen derer, die sich äußerten, nicht hätten heterogener sein können: Da waren kirchenkritische Betroffene und solche, die sich in evangelischen Strukturen für das Thema Missbrauch engagieren, Betroffene aus Heimen oder aus Gemeindekontexten, Podcaster, Freigeister, kirchliche Angestellte. Bei der Pressekonferenz wurde Ralf Meister darauf angesprochen. Unterschiedliche Betroffene mit unterschiedlichen Geschichten, aber alle stellen enttäuscht die Frage nach dessen Verbleib im Amt.
Meister sieht "keine neue Qualität" in Forderungen
Der Landesbischof antwortete sinngemäß: Er würde gern mit diesen Betroffen sprechen. Aber er sehe keine neue Qualität des Vorwurfs, aus der für ihn deshalb nun doch ein Rücktritt folgen müsste. "Keine neue Qualität" sieht Landesbischof Ralf Meister also am Ende eines bewegenden und aufwühlenden Tags. Die Frage, ob ein Rücktritt gerechtfertigt wäre, stellt sich nicht mehr. Statements wie "keine neue Qualität" stehen für sich und liefern die Antwort gleich mit: In diesem Fall wäre ein Schritt zurück ein qualitativ-gewaltiger Schritt nach vorn.