Porträt von Brigitta Muntendorf vor blauem Hintergrund. Die Komponistin blickt direkt in die Kamera, trägt offene blonde Haare und ein schwarzes Oberteil.

Niedersachsen Von Metzmacher zu Muntendorf: Neuanfang für Kunstfestspiele Herrenhausen

Stand: 08.06.2025 16:23 Uhr

​​Zehn Jahre hat Ingo Metzmacher die Kunstfestspiele Herrenhausen geprägt - jetzt übernimmt Brigitta Muntendorf. Metzmacher hat heute Charles Ives dirigiert, seine Nachfolgerin am Sonnabend ihr Werk "Orbit - A War Series" präsentiert.

Der unterschiedliche Fokus des scheidenden Intendanten und seiner Nachfolgerin ist deutlich: Wo Dirigent Ingo Metzmacher für sein Abschiedskonzert mit Charles Ives einen Klassiker der Moderne aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts präsentiert, sind von der Komponistin Brigitta Muntendorf KI-Stimmklone, 3D-Audio und Elektronik von heute zu hören. "Orbit - A War Series" lautet der Titel ihres Werkes.

"Orbit - A War Series": Angstvolle Schreie aus 40 Lautsprechern

Der dunkle Veranstaltungsraum ist in leichten Nebel gehüllt, es beschleicht einen Unsicherheit. Scheinwerfer erhellen die Szene in lila, blau und rot. 40 Lautsprecher hüllen das auf Papp-Hockern verstreut sitzende Publikum in Tonflächen. Dann wieder ertönen angstvolle Schreie oder wir hören die Rotorblätter eines Hubschraubers. Die 2023 für die Venedig-Biennale komponierte Arbeit wandelt die Berichte von Frauen, die unter Krieg, Vergewaltigung und Machtkämpfen gelitten haben in KI-Stimm-Klone um. 

Publikum sitzt in einem abgedunkelten Raum, der in Nebel gehüllt ist. Ein einzelner Lichtstrahl fällt dramatisch von oben auf die Mitte des Raums - Szene aus Brigitta Muntendorfs Stück "Orbit - A War Series".

Licht, Klang, Nebel - und kollektives Zuhören: Szene aus Brigitta Muntendorfs Werk "Orbit - A War Series"

Muntendorf spricht von globalen Verschiebungen, die sie beunruhigen. "Was um uns herum passiert, rückt totalitäre Machtverhältnisse zunehmend in den Fokus - und das weltweit. Es geschieht überall und gleichzeitig." Besonders alarmierend sei für sie eine gesellschaftliche Tendenz, bei der sich "das Lauteste, das Stärkste" durchsetze. "Genau dem muss man etwas entgegensetzen", so Muntendorf. Ihre Antwort: Räume schaffen - für das Publikum, für Zwischentöne, für das gemeinsame Zuhören. Es gehe ihr darum, "ein radikales Verorten beim Anderen zu ermöglichen - und nicht nur bei sich selbst."

Ingo Metzmacher geht - spektakuläre Arbeiten bleiben in Erinnerung

Räume zu öffnen, das war auch das Credo von Ingo Metzmacher, der die Kunstfestspiele Herrenhausen zehn Jahre lang prägte. Spektakulär und ein logistisches Meisterwerk war etwa die Aufführung von Heiner Goebbels' "Surrogate Cities" in der Gleisfeldhalle des Transporterwerks Stöcken von Volkswagen. Den Himmel über Hannover ließ er 2020 von Robert Henke erobern, mit einer gewaltigen Licht- und Klanginstallation über der großen Fontäne von Herrenhausen: ein Energie-Gewitter in allen Farben.

Hannover: Abschiedskonzert von Ingo Metzmacher im Kuppelsaal

Kommt da beim Publikum Wehmut auf? "Schade ist es immer, wenn jemand Hannover verlässt", sagt eine Besucherin. "Es war ein gutes Programm - ich habe wahnsinnig tolle Inszenierungen gesehen und viel Neues entdeckt." Ein anderer Besucher blickt ebenfalls mit Hochachtung auf Metzmachers Arbeit zurück: "Er hat wunderbare Projekte gemacht. Und auch die letzte Ausgabe des Festivals ist grandios." Zweifel an der Zukunft hat der Besucher dennoch nicht: "Ich bin mir sicher, dass auch seine Nachfolgerin das Festival auf höchstem Niveau zelebrieren wird."

Rettung in einen imaginären Orbit

Von ihrer Arbeitsweise berichtete Muntendorf im Gespräch mit Moderatorin Friederike Westerhaus nach der Aufführung ihres Space-Oratoriums. Texte von vergewaltigten und misshandelten Frauen, etwa aus dem Iran oder Afghanistan, lässt sie von KI-Stimmen sprechen. Diese Stimmen, so Muntendorf, hätten sich in einen imaginären Orbit gerettet. Das Thema Räume werde auch ihre erste Ausgabe als Intendantin der Kunstfestspiele prägen, so die 42-Jährige.

"Was ich mir wünsche, ist, dass das hier partnerschaftlich passiert und dass man das spürt", sagt sie. Ihr Ziel sei es, einen offenen Raum zu schaffen, in dem sich möglichst viele eingeladen fühlen. "Wir gehen in die Stadt, wir sind präsent und wir schaffen Anknüpfungspunkte." Nicht nur für ein kunstaffines Publikum, sondern auch für Menschen, die vielleicht zum ersten Mal mit Kunst in Berührung kommen - "egal ob als Zuschauende oder Mitwirkende".

Dieses Thema im Programm:
NDR Kultur | Der Sonntag | 08.06.2025 | 11:20 Uhr