
Schleswig-Holstein Gegen Tabuisierung: wie eine junge Demenzkranke Mut macht
Die jung an Alzheimer-Demenz erkrankte Eckernförderin Britta Flaig (57) hat ein Kinderbuch über die Krankeit geschrieben. Damit wirbt sie für einen offenen Umgang und macht anderen Betroffenen Mut.
Eine Frau in Latzhose, mit langem, grauen Haar, steht verloren in ihrem Wohnzimmer. Sie denkt nach, schaut sich um und sagt: "Für die Lesung. Da hab ich..." Sie hält inne, kramt in ihrem Gedächtnis. Seit sieben Jahren ist das so: Suchen ist ihr Alltag. Britta Flaig hat Alzheimer-Demenz und ist noch keine 60 Jahre alt. Vor Jahren hat sie ein Gedicht darüber geschrieben. Sie will es vorlesen. "Verdammt noch mal!" Sie stockt. "Irgendwo muss ich das haben." Sie kramt in beschrifteten Schubladen. Ohne Erfolg.
"Eigentlich lege ich das immer alles ordentlich hin. Aber das Problem ist bei mir, dass ich mir immer ganz viele neue Plätze merke und immer denke, das sind die besten und ich kann sie mir eigentlich nie merken." Dann kramt sie weiter, dreht sich um und ruft nach ihren Mann: "Stefan weißt du, wo meine Lesungssachen alle sind?" Er ist sofort zur Stelle: "In der Kiste im Schlafzimmer könnte es sein." "In welcher Kiste?", fragt sie. Sie finden es nicht. Dann fällt Britta Flaig ein, dass ihr Gedicht im Laptop gespeichert ist. "Hah!" Sie klatscht vor Freude in die Hände.

Britta Flaig hat seit sieben Jahren Alzheimer- Demenz
Das Gedicht über die Motten im Kopf
"Manchmal oder manchmal öfter, scheinen die Motten besonders hungrig zu sein. Dann fallen mir die einfachsten Worte nicht ein. Gib mir mal das Ding-Dongs her. Doch was ich wirklich damit meinte, weiß ich dann oft schon selbst nicht mehr. Das Ding-Dongs ist mein neuer Begleiter."
So fühlt sich die Demenz für sie an. "Die Motten im Kopf fressen einfach immer weiter und immer weiter. Und irgendwann werden sie auch das Dings-Dongs fressen." Beim Lesen ist in ihrem Gesicht deutlich zu sehen, dass ihre eigenen Wort ihr nahe gehen.
Die Angst ist da, die Angst ist immer da, und die Angst kommt nachts manchmal, wenn ich wach werde, Angst, nicht mehr zu wissen, wer ich bin."
— Britta Flaig
Das drücke gut aus, was Demenz ist, so Flaig. "Die Angst, die da drin steckt, in diesem Gedicht, ist die Angst auch in mir, die ich natürlich unweigerlich habe." Nicht nur ihre Vergesslichkeit, auch dass sie beim Erzählen ins Stocken kommt und Wörter oft wiederholt, gehört mittlerweile zu ihrem neuem Leben. Wie sich das anfühlt, könne niemand nachvollziehen, der nicht betroffen ist, sagt sie. Das mache sie manchmal einsam.
Keiner hat mich ernst genommen
Britta Flaig war in ihrem alten Leben Grundschullehrerin. "Vollblutlehrerin", sagt sie. "Ich habe meinen Job geliebt." Aber dann begann das mit der Vergesslichkeit. Sie brachte vieles durcheinander, verlor ihren Schlüssel immer wieder. Sie lachte damals noch darüber, aber irgendwann fing sie an, sich ernsthaft Sorgen zu machen und ist zum Arzt gegangen. Dann zum nächsten und wieder zu einem anderen. "Und alle sagten: 'Burn-out, überarbeitet!'" Als diese Odyssee losging, war sie erst 50 Jahre alt. "Das war ganz schlimm, weil mich keiner ernst genommen hat."
Erst vor knapp anderthalb Jahren hat eine Ärztin eine Hirnwasseruntersuchung und ein MRT bei ihr gemacht und die Diagnose stand endlich fest. "Das war ein Schock, aber gleichzeitig auch eine große Erleichterung."
Demenz trifft nicht nur alte Menschen
In Deutschland leben derzeit rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz. In Schleswig-Holstein sind es mehr als 65.000. Sie werden nach und nach immer vergesslicher, verlieren die Fähigkeit, Probleme zu lösen oder ihren Tag zu planen. Es sind nicht immer nur alte Menschen, die an dieser tückischen Krankheit leiden, erklärt Cornelia Prepernau vom Kompetenzzentrum Demenz Schleswig-Holstein. Dass die Krankheit über Jahre von Ärzten nicht erkannt wird, so wie bei Britta Flaig, dass passiere leider immer wieder, gerade, wenn die Betroffenen jung sind. Sie hat Britta Flaig bei einer Lesung in Eckernförde kennengelernt. "Ihr Umgang mit der Krankheit ist bemerkenswert."
Das ist ein Zwiespalt zwischen Hilfe und Bevormundung. Mit jeder Hilfe nimmst du dem anderen ja auch was weg, was er selbst machen könnte."
— Stefan Seidel, Ehemann
Ohne die Hilfe ihres Mannes geht vieles nicht mehr
Zusammen mit ihrem Mann Stefan sitzt sie am Küchentisch. Er hat den Laptop aufgeklappt. "Was mach' ich am Wochenende?" fragt Britta Flaig. Sie hat es vergessen. "Wir müssen noch überlegen, wo wir dich unterbringen können. Ich bin ja die Nacht von Samstag auf Sonntag nicht da." Planen kann Britta Fraig nicht mehr alleine. Er trägt alle Termine in den gemeinsamen digitalen Kalender ein. Sie denkt nach und fragt: "Wann bist du noch mal weg?" Sie hat es wieder vergessen.
Es nicht einfach, die richtige Mitte zu finden, erklärt Stefan Seidel. Und sie erzählt, dass sie sich deswegen auch manchmal streiten. "Ich bin sehr autonomiebedürftig und sehr temperamentvoll", erklärt sie. Besonders dankbar sei sie ihm, weil er nachvollziehen könne, wie es ihr in solchen Momenten geht. Dann "breitet er seine großen Arme aus und sagt: 'Komm in meine Arme', und dann weine ich alles raus", den ganzen Frust. "Manchmal bin ich richtig wütend." Dann laufe sie zum Strand. Sie wohnt in Eckernförde, muss nur durch ihr Gartentor und einmal über die Straße, "dann brauche ich echt Luft und laufe und laufe und laufe." Aber immer dieselbe Strecke und immer mit einem Tracker, damit ihre Familie weiß, wo ist. Denn sie hat sich in der Vergangenheit mehrfach verlaufen.

Wenn sie besonders verzweifelt ist, geht sie an die frische Luft und immer den gleichen Weg, damit sie sich nicht verirrt
Sie liebt das Leben und will sich möglichst viele Wünsche erfüllen
Seit der Diagnose arbeitet Britta Flaig ihre Bucket-List ab, solange es noch geht. Sie hat mir ihrem jüngsten Sohn eine Alpenüberquerung gemacht, war mit allen drei Kindern im Hansa-Park, zum ersten Mal außerhalb Europas und hat Stefan geheiratet. Im Sommer soll es ein großes Fest geben. "Mein Lebensfest" sagt sie.
Was sie außerdem noch kann: Malen und Schreiben. Drei Kinderbücher hat sie veröffentlicht. Eines heißt "Mama Berta und das Vergessen" und handelt von einem Schaf, das mit ihren Kindern in Schafhausen lebt, sehr gerne wandert, aber immer vegesslicher wird. "Mit diesem Buch habe ich wirklich eine Art Frieden gefunden." Sie habe beim Schreiben und illustrieren aber nicht nur ihre Krankheit verarbeitet. Sie will auch andere Betroffene ermutigen.

Britta Flaig zusammen mit ihrer Tochter. Mit der Reise nach Südafrika und Namibia hat sie sich einen Lebenstraum erfüllt
Sie ist ein echtes Vorbild
Und genau deswegen geht sie in die Öffentlichkeit, macht Lesungen, so wie in der Stadtbücherei in Kiel.
70 Menschen sind gekommen. Interessierte, Betroffene und ihre Angehörigen. Britta Flaig hat kein Problem, vor großen Guppen zu sprechen. In ihrem alten Leben hat sie Straßentheater gespielt. Die Textstellen, die sie lesen will, hat sie farbig markiert und nummeriert, damit sie nicht den Faden verliert. Sie liest laut und deutlich: "Im Laufe der Zeit verlegte oder vergaß Mama Berta immer mehr Dinge, verwechselte die Namen ihrer Lämmer, die Wochentage, oder vergaß, was sie eigentlich sagen oder tun wollte." Zwischendurch erzählt sie, von ihrer Krankheit und ihrem Umgang damit und schließt mit den Worten: "Das Beste ist wirklich, ich nehme es an. Anders geht es auch nicht."
Das Publikum ist begeistert: "Ganz, ganz toll. Dass sie das auch alles so schafft. Also finde ich richtig toll." sagt eine. Ein anderer findet, dass Britta Flaig Mut macht "sich zu zeigen und die Demenz nicht zu verheimlichen." Und Cornelia Prepernau vom Kompetenzzentrum Demenz sagt: "Sie ist ein echtes Vorbild!" Das freut Britta Flaig, denn sie hat eine Botschaft: Demenz ist eine Erkrankung, für die sich niemand schämen muss.

Mit ihrem jüngsten Kinderbuch "Mama Berta und das Vergessen" plädiert sie für einen offenen Umgang mit Demenz
Dieses Thema im Programm:
NDR Fernsehen | Schleswig-Holstein Magazin | 22.04.2025 | 19:30 Uhr