
Betrug im Gesundheitswesen Schadenssumme übersteigt 200 Millionen Euro
Der Betrug im Gesundheitswesen nimmt weiter zu. Das geht aus einem aktuellen Bericht der gesetzlichen Krankenkassen hervor. Im Fokus: die Abnehmspritze Ozempic und Schmerzmittel wie Tilidin und Fentanyl.
Zwischen 80 und 217 Euro kostet, je nach Dosis, eine Ozempic-Abnehmspritze. Ozempic, ursprünglich ein Diabetes-Medikament, hat einen enormen Hype ausgelöst, vor allem in Hollywood und bei Prominenten. Auch Kriminelle versuchen von dem Hype zu profitieren. Sie fälschen die Papierrezepte und verkaufen die Spritzen danach weiter. Die Krankenkassen zahlen. Es ist ein Beispiel von vielen, das zeigt, wie die gesetzlichen Krankenkassen betrogen werden.
Insgesamt haben die Kassen in den Jahren 2022 und 2023 Betrugstaten im Wert von gut 200 Millionen Euro aufgedeckt. Es sei die höchste Summe seit der regelmäßigen Erfassung im Jahr 2008, heißt es im aktuellen Bericht des GKV-Spitzenverbandes, der am Freitag veröffentlicht wird.
Immer öfter gelingt es Kriminellen demnach, gefälschte Rezepte für teure Medikamente einzulösen. Neben Ozempic werden auch Schmerzmittel wie Tilidin und Fentanyl in den Apotheken zu Lasten der Kassen eingereicht und abgerechnet. Wird der Betrug allerdings aufgedeckt, fordern die Kassen aber auch von den Apotheken Schadensersatz, denen die gefälschten Rezepte nicht aufgefallen sind.
Düstere Bilanz
Der GKV zieht in seinem Bericht, erstellt von der "Stelle zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen" generell eine düstere Bilanz. "Dreistellige Millionenbeträge, die durch Fehlverhalten im Gesundheitswesen verlorengehen, fehlen zugleich für die medizinische und pflegerische Versorgung der Menschen", sagt Martin Krasney, Vorstand des GKV-Spitzenverbandes.
Der Bericht stützt sich auf Informationen der 94 Mitgliedskassen sowie von Whistleblowern, die im Gesundheitswesen tätig sind. Insgesamt wurden im Berichtszeitraum rund 50.000 Hinweise gemeldet. Das ist eine Steigerung um mehr als 20 Prozent im Vergleich zum vorherigen Berichtzeitraum 2021/2020.
Grundsätzlich sind alle Leistungsbereiche der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung betroffen. Abgerechnete, aber nicht erbrachte Leistungen sowie erbrachte Leistungen ohne vertragsgemäße Qualifikation und Urkundenfälschung kämen besonders häufig vor. Die verfolgten Fälle werden dem Verband zufolge immer größer und komplexer. Man habe es zunehmend mit vernetzten Strukturen und mehreren Beteiligten zu tun, heißt es im Bericht.
Höhere Schadenssumme und höhere Sicherstellungen
Fast die Hälfte aller eingegangenen Hinweise betrafen Delikte im Bereich der Pflege. Dienstleister sollen etwa falsche Zeiten und mehr Leistungen, als tatsächlich erbracht worden waren, abgerechnet haben. Auch gefälschte Berufsurkunden und Patienten-Unterschriften führt der GKV als typisches Beispiel für Betrug in dieser Branche an.
Der Wert der bekannt gewordenen Fälle beläuft sich in diesem Bereich auf über 62 Millionen Euro. Nur 21 Millionen Euro konnten gesichert werden, die dem Gesundheitswesen dann wieder zur Verfügung stehen.
Insgesamt konnten über alle Bereiche 92 Millionen Euro von den Krankenkassen gesichert werden. Laut Bericht ist das der höchste Wert seit Beginn der gemeinsamen Schadenserfassung aller Kassen.
Arzneimittelbranche mit höchster Schadenssumme
Die Betrugshandlungen, allen voran mit gefälschten Papierrezepten, kosteten den Bereich der Arznei- und Verbandsmittel fast 86 Millionen Euro. Vergleichsweise wenige Fälle würden dort angesichts der Preise hohe Schadenssummen verursachen. Weniger als die Hälfte der Betrugswerte konnte durch die Kassen gesichert werden.
Der GKV-Bericht schildert einen Fall, in dem Rezepte in einer Apotheke eingelöst wurden, die sowohl vom Wohnort der Versicherten als auch vom Sitz der verschreibenden Arztpraxis mehrere hundert Kilometer entfernt lag. Vereinzelt sollen sogar Rezepte eingelöst worden sein, die erst nach dem Tod der Versicherten ausgestellt worden waren.
Scheinfirmen als Teil krimineller Netzwerke
Laut GKV wird ein weiteres professionelles Betrugsmuster zunehmend sichtbar: die Gründung sogenannter Scheinfirmen. Als Geschäftsführer dieser Unternehmen werden nach rbb-Recherchen oft ahnungslose, suchtkranke Menschen aus Osteuropa eingesetzt. Die Firmen existieren aber nur auf dem Papier oder als Briefkästen.
Über diese Scheinunternehmen werden Menschen bei Kranken- und Sozialkassen angemeldet. Dabei handelt es sich allerdings um Personen, die oft gar nicht wirklich bei den Firmen beschäftigt werden. Ihre Entgeltabrechnungen, Gehaltszahlungen und Arbeitsverträge sind oft manipuliert oder gefälscht.
Bandenmäßige Organisation
Das Ziel dieser Konstrukte ist laut GKV, Sozialleistungen "in einem möglichst großen Umfang" zu erschleichen. Kriminelle und Betrüger gelangen auf diese Weise nicht nur an aufwändige medizinische Leistungen, sondern auch an verschiedene Sozialleistungen: Sie lassen sich dann Krankengeld, Arbeitslosengeld I oder Bürgergeld auszahlen.
Die Schäden betreffen somit mehrere Sozialversicherungsträger gleichzeitig. Laut GKV-Spitzenverband handelt es sich dabei längst nicht mehr um Einzelfälle: Die Täter gehen gezielt vor und sind zum Teil bandenmäßig organisiert.
Die geschädigten Kassen seien oft nicht in der Lage, den vollen Umfang des Fehlverhaltens zu erkennen, heißt es im Bericht. Der Vorstand des GKV, Krasney, fordert deshalb eine Änderung des Sozialgesetzbuches, um Abrechnungsdaten zentral an einer Stelle zusammenzuführen: "Mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz könnten so endlich auch kriminelle Sachverhalte erkannt werden, die mit den bisherigen Möglichkeiten einer einzelnen Krankenkasse nicht aufgedeckt werden können."
Whistleblower besser schützen
Auch beim Gesetz zum Schutz von Hinweisgebern sieht der GKV Nachbesserungsbedarf. Weniger als 20 Prozent der eingegangenen Hinweise kam von Whistleblowern, die im Gesundheitswesen tätig sind. Dabei handelt es sich etwa um Mitarbeiter, die einen Verdacht auf Betrug in ihrem eigenen Unternehmen bei den Kassen gemeldet haben.
Doch das Hinweisgeberschutzgesetz schützt nicht alle Whistleblower. Bei den Meldungen muss es sich entweder um eine Straftat oder um eine Ordnungswidrigkeit handeln, andernfalls drohen den Informanten arbeitsrechtliche Konsequenzen.
Das Gesetz greife deshalb zu kurz, findet der GKV-Spitzenverband. Denn 90 Prozent aller verfolgten Neufälle von Fehlverhalten im Gesundheitswesen betreffen strafloses, aber dennoch rechtswidriges Verhalten, wie Verstöße gegen sozialgesetzliche oder vertragliche Verbote.
GKV geht von großem Dunkelfeld aus
Internationale Studien schätzen den Schaden durch Abrechnungsbetrug und Korruption auf fünf bis zehn Prozent der Gesamtausgaben im Gesundheitswesen. In Deutschland wäre das ein zweistelliger Milliardenbetrag.
Der GKV-Spitzenverband geht ebenfalls von einer hohen Anzahl unentdeckter Fälle aus. Er weist jedoch darauf hin, dass in den Studien zwar Gesundheitssysteme mehrerer Länder untersucht wurden, Deutschland aber nicht einbezogen wurde. Die Bundesregierung solle deswegen eine eigene Studie in Auftrag geben, in der das Dunkelfeld erforscht wird.
Alle zwei Jahre wertet der GKV-Spitzenverband die Daten seiner 94 Mitgliedskassen zum Fehlverhalten im Gesundheitswesen aus.