
70 Jahre documenta Skandale und Weltkunst
Die documenta in Kassel gilt als eine der weltweit wichtigsten Kunstausstellungen der Gegenwart. Ihre Entwicklung wurde von beeindruckenden Werken, aber auch von politischen Skandalen und harten Debatten geprägt. Ein Rückblick.
An der Erdoberfläche lässt sich nur ein Punkt im Boden erahnen. Die Stahlstange, die sich dahinter verbirgt, ragt jedoch einen ganzen Kilometer in den Boden unter der Kasseler Innenstadt. Dieser "vertikale Erdkilometer" auf dem Friedrichsplatz ist eines der vielen Kunstwerke, die die Weltkunstschau documenta in der Stadt hinterlassen hat - neben Obelisken, Statuen und Wandbildern. Dieses Jahr feiert die Ausstellung ihr 70-jähriges Jubiläum.
Kandinsky, Klee, Picasso - direkt neben der Bundesgartenschau
Gegründet wurde die documenta 1955 von Arnold Bode. Zunächst fand sie alle vier Jahre statt, seit 1972 ist der zeitliche Abstand auf fünf Jahre gewachsen. Was sich ebenfalls geändert hat: Ursprünglich war die documenta eine Begleitausstellung zur Bundesgartenschau. In einer durch den Krieg zerbombten Stadt zeigte sie Werke von großen Künstlern der Nachkriegszeit - etwa von Picasso, Kandinsky und Klee - und brachte gleichzeitig Farbe in die Ruinen.
"Der Unterschied zwischen der documenta und den anderen Ausstellungen der Zeit war das Gefühl der Dringlichkeit", sagt Carolyn Christov-Bakargiev, die 2012 die documenta13 kuratiert hat. Diese Dringlichkeit der Kunst sei nach dem Leid des Zweiten Weltkrieges besonders hoch gewesen.
Arnold Bode als Vater der documenta
Arnold Bode habe das erkannt. Von Beginn an hatte der Sozialdemokrat, der von den Nationalsozialisten mit einem Berufsverbot belegt worden war, die Ausstellung international angelegt. Dass an seiner Seite unter den ersten documenta-Verantwortlichen zahlreiche NSDAP-Mitglieder waren, wurde erst Jahrzehnte später bekannt.
Doch Bode war es, der die ersten vier Ausgaben der Weltkunstschau leitete - bis ins Jahr 1968. Erst in seiner letzten documenta berücksichtigte er auch abstraktere Kunstformen wie Pop-Art oder Minimalismus. Die Begeisterung der Bevölkerung hielt sich damals noch in Grenzen.
7.000 Eichen, 1.000 Chinesen und ein Holzturm
Das änderte sich mit der Zeit. Auch weil die documenta in Kassel immer wieder in den öffentlichen Raum eingriff. 1982 etwa pflanzte Joseph Beuys 7.000 Eichen, die bis heute im ganzen Stadtgebiet verteilt sind.
Auch der chinesische Künstler Ai Weiwei hat sich in das Gedächtnis der Stadt gebrannt. Er flog im Jahr 2007 nicht nur 1.000 Chinesen nach Kassel ein, sondern baute auch einen Holzturm aus ausrangierten Türen, der schon vier Tage nach Eröffnung der documenta12 in sich zusammenstürzte. "Der Preis hat sich soeben verdoppelt", kommentierte er damals trocken mit Blick auf einen möglichen Verkauf des Werkes.

Die ehemalige Museumsdirektorin Petzinger schätzt die Offenheit der documenta.
Stück für Stück geöffnet
Renate Petzinger, ehemalige stellvertretende Direktorin des Museums Wiesbaden, schätzt die Offenheit der Stadt gegenüber der Weltkunst: "Ich lebe hier ungeheuer gerne, weil ich mit ganz vielen Menschen aus unterschiedlichsten Lebensperspektiven immer Gespräche über Kunst anfangen kann", sagt sie. Als sie in den 1970er-Jahren nach Kassel kam, sei die documenta noch ein geschlossener Raum, ein Fremdkörper gewesen. Doch durch das Einbeziehen der Öffentlichkeit schaffte es die Ausstellung, sich Stück für Stück zu öffnen. Das ist auch der künstlerischen Leitung zu verdanken.

Carolyn Christov-Bakargiev macht 2002 das "Fühlen" zur wichtigsten Prämisse der documenta13.
Dezentralisierung und ruangrupa
Die inzwischen 67-jährige Carolyn Christov-Bakargiev hat das "Fühlen" als wichtigste Prämisse der documenta13 übernommen - um die Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt bei der Ausstellung zusammenzuführen. Sie fand Kunstschaffende am Nordpol und in der Wüste und brachte die Ausstellung erstmals in vier Länder zugleich: "Es gab ab den 1990er-Jahren die Bewegung, die Ausstellung zu dezentralisieren", sagt sie. Die indonesische Künstlergruppe ruangrupa, die 2022 die künstlerische Leitung der documenta fifteen übernommen hatte, habe diese Bewegung einfach umgedreht. Die Idee: "Wir können auch die ganze Welt bei der documenta in Kassel haben."
"Die documenta hat am Abgrund gestanden"
Eine Entscheidung, die in einem beispiellosen Skandal endete. Unter anderem wurde unter ruangrupas künstlerischer Leitung ein eindeutig antisemitisches Bild in der Kassler Innenstadt platziert: Es zeigte einen stilisierten Juden mit blutunterlaufenen Augen, Reißzähnen und SS-Runen am Hut. Erst nach massiver Kritik hatte die documenta das Kunstwerk dann verhüllt und eine Aufarbeitung versprochen.
Doch die lief nur schleppend an: Zwar wurde die documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann abberufen, eine Einsicht der künstlerischen Leitung ruangrupa blieb aber aus. Der eilig herbeigezogene externe Antisemitismus-Berater Meron Mendel verließ seinen Posten zudem bereits nach zwei Wochen wieder. Er habe den "ernsthaften Willen vermisst, die Vorgänge aufzuarbeiten und in einen ehrlichen Dialog zu treten", sagte der damals dem Spiegel.
Antisemitismusvorwürfe gegen Findungskommission
Selbst die neu geschaffene Findungskommission, die nach der Erfahrung mit ruangrupa eine verlässliche künstlerische Leitung für die documenta16 bestimmen sollte, sorgte im Herbst 2023 für einen Eklat: Eines der Mitglieder sah sich Antisemitismus-Vorwürfen ausgesetzt, nachdem er im Jahr 2019 einen israelfeindlichen BDS-Brief unterzeichnet hatte.
Kurz darauf trat das Gremium geschlossen zurück. Die für die Aufarbeitung der documenta15 federführende Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff sprach von einem "Scherbenhaufen". Kulturstaatsministerin Claudia Roth forderte einen "glaubwürdigen Neustart". Der heutige Geschäftsführer Andreas Hoffmann rückblickend: "Die documenta hat am Abgrund gestanden und ist danach durch ein langes, tiefes Tal gegangen."

"Die documenta hat am Abgrund gestanden und ist danach durch ein langes, tiefes Tal gegangen", sagt der heutige Geschäftsführer Andreas Hoffmann mit Blick auf den Antisemitimus-Skandal.
Rollenteilung soll Skandale verhindern
In Zukunft solle es eine neue Rollenteilung der Geschäftsführung und den Kuratierenden erlauben, gegen Antisemitismus, Rassismus und andere gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vorzugehen, so Hoffmann. Alles, was im Rahmen der Gesetze erlaubt sei, könne aber weiterhin auf der documenta16 präsentiert werden.
Hoffmann glaubt dabei an ein Erfolgsformat: "Die Wahrnehmung einer documenta ist sehr von einer künstlerischen Leitung geprägt", erklärt er. Die Ausstellung sei dadurch auch immer ein "Seismograf zentraler Diskurse der Gegenwart" gewesen. Die neue Kuratorin Naomi Beckwith habe einen Stimmungswechsel hervorgerufen. Viele Kritiker seien schon jetzt begeistert und freuten sich auf das Jahr 2027.