
Krieg gegen die Ukraine Wie die Verluste von Kriegsgerät verifiziert werden
Wie hoch die Verluste im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind, wird von offiziellen Stellen nicht kommuniziert. Mithilfe von Bildern und Videos versuchen Experten, verlorenes Kriegsgerät zu identifizieren.
Es ist ein Video, das auf den ersten Blick aussieht wie aus einem Ego-Shooter: Die Kamera nähert sich einem zerstörten Militärfahrzeug, immer wieder ist der Lauf einer Waffe im Bild zu sehen. Ein Soldat taucht kurz darauf im Bild auf. Gemeinsam mit seinem Kollegen untersucht er das zerstörte Fahrzeug. Auf der Innenseite der Beifahrertür steht in deutscher Schrift: "ABC Schutzausrüstung". Das Video, das in sozialen Netzwerken geteilt wird, soll ein deutsches Militärfahrzeug vom Typ Dingo zeigen.
50 dieser Dingos hat die Bundesregierung bisher an die Ukraine geliefert. Das geht aus einer offiziellen Auflistung auf der Website der deutschen Bundesregierung hervor. Allerdings kündigte die neue Regierung an, die Kommunikation von Waffensystemen künftig deutlich zu reduzieren.
Die Begründung: Man wolle dem Aggressor Russland durch Zurückhaltung dieser Informationen "militärische Vorteile verweigern". Doch während die Zahlen zu gelieferten deutschen Waffen an die Ukraine zumindest einige Zeit lang relativ offen waren, wurde weder von ukrainischer noch von deutscher Seite Zahlen zu Verlusten deutscher Kriegsgeräte bekanntgegeben.
OSINT-Experten dokumentieren Verluste
Nicht nur die Ukraine, auch Russland hält sich bedeckt, was die Kriegsverluste angeht - sowohl getötete oder verwundete Soldaten als auch zerstörtes Kriegsgerät werden nicht offiziell kommuniziert. Es gibt jedoch Seiten im Netz, die sich zur Aufgabe gemacht haben, die Verluste zu dokumentieren - zum Beispiel anhand öffentlich zugänglicher Fotos und Videos, die vom Kriegsgeschehen unter anderem von ukrainischen und russischen Militärbloggern verbreitet werden.
Die vermutlich bekannteste Seite dafür heißt Oryx. Hier werden die Kriegsgeräte, die zerstört, beschädigt, zurückgelassen oder von der Gegenseite übernommen worden sind, für jedes Militärgerät dokumentiert. Als vermeintlicher Beleg werden meist ein oder mehrere visuelle Darstellungen verlinkt. Auch weitere Organisationen wie das Centre for Information Resilience (CIR) versuchen auf dieser Grundlage, die Verluste zu verifizieren und teilweise auch, den Ort des Geschehens herauszufinden.
Wie verlässlich sind die Angaben?
Laut Oryx hat die Ukraine insgesamt 4.641 gepanzerte Kampffahrzeuge im Krieg gegen Russland bislang verloren. 3.410 davon sind demnach zerstört worden, 237 beschädigt, 403 zurückgelassen und 591 von Russland erbeutet (Stand: 5. Juni 2025). Zum Vergleich: Russland hat Oryx zufolge knapp das Dreifache an gepanzerten Kampffahrzeugen verloren.
Unter den ukrainischen Verlusten sollen auch Kampffahrzeuge sein, die Deutschland geliefert haben soll. So wird bei Oryx unter anderem der Verlust von 13 Panzern des Typs Leopard 2A6, 44 Panzer des Typs Marder 1A3 und 11 Allschutz-Transport-Fahrzeuge (ATF) Dingo angegeben. Um zu überprüfen, ob es sich dabei um plausible Daten handelt, hat sich die ARD-faktenfinder-Redaktion gemeinsam mit Experten einige dieser Beispiele näher angeschaut.
Zerstörter Dingo deutlich zu erkennen
Ein Beispiel: das Video vom eingangs beschriebenen Dingo, ein gepanzertes Militärfahrzeug. Ein Foto des Fahrzeugs ist bei Oryx zu finden, CIR hat zudem ein Posting auf der Plattform X mit einem Foto und das besagte Video, in dem das deutsche Kriegsgerät zu sehen sein soll.
Dass es sich bei dem sogenannten Allschutz-Transport-Fahrzeug im Video tatsächlich um einen Dingo handelt, kann Hendrik Remmel, Militäranalyst vom German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) bestätigen. Zum einen sei die Fahrzeugform sehr charakteristisch. Auf dem Video ist das Fahrzeug gut zu erkennen, auf der Motorhaube sind in schwarz die Buchstaben des deutschen Rüstungsherstellers KMW zu sehen.
Es gibt zudem starke Indizien, dass der Dingo aus dem Bestand der Bundeswehr geliefert worden ist, sagt Remmel. Neben der deutschen Schrift auf der Innenseite der Beifahrertür ist am Heck des Fahrzeugs das für die Bundeswehr typische Leitkreuz zu erkennen. Es dient zur Orientierung für nachfolgende Fahrzeuge bei der Fahrt unter Gefechtsbedingungen.
Winkerkelle als spezifisches Merkmal
Auf der Ladefläche am Heck lässt sich außerdem eine rot-weiße Winkerkelle identifizieren. "In der Regel werden die Fahrzeuge mit ihrer Bordausstattung an die Ukraine geliefert, und da gehört diese ganz klassische Winkerkelle dazu", sagt Remmel.
Remmel schätzt anhand der im Video sichtbaren Beschädigungen, dass unter dem Dingo etwas detoniert sei, vermutlich eine Mine. Der vordere Reifen auf der linken Seite ist stark beschädigt und nach innen gedreht, die Motorhaube ist leicht angehoben. "Das Zerstörungsmuster zeigt sich bei Fahrzeugen, unter denen die Energie von Wirkmitteln, zum Beispiel von Minen, umgesetzt wurde." Die Einschusslöcher an der Seite deuteten darauf hin, dass das Fahrzeug möglicherweise in einen Hinterhalt geraten sei.
Das Video zeigt aus seiner Sicht den guten Schutz des Dingos. "Das Innere des Fahrzeugs ist weitestgehend intakt. Die Soldaten, die in dem Fahrzeug waren, werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überlebt haben." Es seien zudem auch keine Blutspuren oder Verpackungsmaterial von Verbandspäckchen zu sehen, die auf Verletzungen hinweisen würden.
Wo wurden die Bilder aufgenommen?
Die Aufnahmen wurden tagsüber angefertigt und zeigen im Hintergrund mehrere teils stark beschädigte Gebäude, in erster Linie Hochhäuser. Der Dingo steht am Rand einer von Schutt gesäumten Straße; einige Bäume sind zu sehen, die allerdings kaum Blattwerk tragen. Im Video sind im Hintergrund immer wieder dumpfe Geräusche und mindestens eine Detonation zu hören. Anhand der im Video erkennbaren Gebäude haben Experten auf Social Media das Material in der Stadt Bachmut verortet.
Die Silhouetten der noch sichtbaren Gebäude passen zu Satellitenaufnahmen einer Straße im Westen der Stadt. Sonnenstand und offenbar teils schon begrünte Bäume im Hintergrund sprechen dafür, dass die Aufnahmen in der ersten Tageshälfte und vermutlich im Frühjahr aufgenommen wurden.

Die Silhouetten der noch sichtbaren Gebäude passen zu Satellitenaufnahmen einer Straße im Westen der Stadt Bachmut
Bachmut ist rund 100 Kilometer Luftlinie von der Grenze zu Russland entfernt und war in der sogenannten "Schlacht von Bachmut" bis Mai 2023 Schauplatz schwerer Gefechte zwischen der ukrainischen und russischen Armee, als die russischen Streitkräfte vom Osten bis in den Westen der Stadt vorrückten. Möglicherweise stammt das Video aus der Zeit vom Mai 2023. Eindeutige Beweis sind die genannten Indizien im Video allerdings nicht.
Marder anhand von Turm zu erkennen
Auch bei einem Video, das einen Marder-Schützenpanzer zeigen soll, ist sich Remmel sicher. In dem Video ist die Aufnahme einer Drohne zu sehen, die sich über einem Feld dem Panzer nähert und am Ende an der Seite des Panzers einschlägt. Darauf folgt ein weiteres Video. Zu sehen ist ein abgefilmter Bildschirm einer Drohnenaufnahme, die den Einschlag der ersten Drohne in den Panzer zeigt. Eine große Rauchwolke steigt über dem Panzer auf.
"Bei dem Panzer handelt es sich tatsächlich um einen Marder", sagt Remmel. Zu erkennen sei das unter anderem an dem relativ kleinen Turm, der typisch für den Marder sei. Das Rohr des Schützenpanzers ist zudem verhältnismäßig klein im Vergleich zum Beispiel mit einem Leopard. In dem Video sei auch zu sehen, dass die Ukraine den Marder etwas modifiziert habe. So ist über dem Turm eine provisorische Dachkonstruktion zu erkennen.
"Das ist eine Modifikation, die mittlerweile fast alle ukrainischen Gefechtsfahrzeuge haben", sagt Remmel. "Man versucht dadurch, den schwächer gepanzerten Turmbereich eines Panzers vor Drohneneinschlägen von oben zu schützen." Denn direkt im Turm, unterhalb der Waffenanlage, sitze der Kommandant und der Richtschütze, zudem befinde sich dort Munition für die Bordmaschinenkanone.
Kurz bevor das Video der ersten Drohne endet, ist der Sprengsatz der Drohne zu sehen. Nach Ansicht von Remmel reicht das jedoch nicht aus, um einen Schützenpanzer wie den Marder zu durchschlagen. "Das ist ein solider Treffer, der den Marder jedoch nicht zerstört haben wird." In dem zweiten Video ist zu sehen, dass der Marder nach dem Treffer noch weiterfahren kann. "Die Sprengladung, die solche Drohnen transportieren können, reicht nicht aus, um die Panzerung zu durchschlagen. Dieser Marder ist definitiv nicht so schwer beschädigt worden, dass er nicht mehr weiterkämpfen kann."
Indizien sprechen für die Region Kursk
Vor allem zu Beginn der Drohnenaufnahme ist noch die Umgebung des Panzers zu erkennen, der sich auf einem schlammigen Feldweg befindet. Links vom dem Weg ist ein kleiner Wald erkennbar, der sich nach der Kreuzung mit einem weiteren Feldweg fortsetzt. Experten in den sozialen Netzwerken ordnen die Aufnahmen Koordinaten zu, die sich auf russischem Staatsgebiet südlich der Stadt Kursk in der gleichnamigen Region befinden, wenige Kilometer nördlich von der ukrainischen Grenze entfernt.
Die Umgebung und der Verlauf der Wege scheinen mit Satellitenaufnahmen nahe der Kleinstadt Sudscha übereinzustimmen. Ein entsprechender Vorfall ist auch im Datenbanken-Projekt "Geoconfirmed" eingetragen, datiert auf den 25. November 2024. Auf der Karte können Nutzer Kriegsverläufe anhand von Koordinaten und mit Verweise auf Postings zum Beispiel in sozialen Medien dokumentieren.
Im zweiten Teil des Videos, das offenbar von einer weiteren Drohne aus einiger Entfernung aufgenommen wurde, ist ein Kompass eingeblendet, der nach Süden ausgerichtet ist, der Marder bewegt sich in nordwestliche Richtung. Das entspreche grob der Angriffsrichtung ukrainischer Streitkräfte während der Kursk-Offensive im Jahr 2024, so Militäranalyst Remmel. Auch die Witterungsverhältnisse und die Jahreszeit würden passen.
"Zudem wissen wir, dass Marder-Schützenpanzer in dieser Offensive eingesetzt worden sind. Das heißt, es ist zumindest möglich, dass dieses Fahrzeug in der Kursk-Offensive bekämpft wurde", so Remmel. Ihm persönlich würde das jedoch nicht reichen, eindeutig zu sagen, dass dieser Marder in der Kursk-Offensive der Ukrainer bekämpft wurde. Dazu sei die Indizienlage insgesamt zu dünn.
Experte identifiziert auch Leopard-Panzer
Auch insgesamt 13 Leopard-Panzer des Typs 2A6 listet Oryx auf, die zerstört, beschädigt oder zurückgelassen worden sein sollen. Auch hier lassen sich anhand eines der dokumentierten Bilder nach Recherchen von CIR Videos finden, die den Angriff auf einen der Panzer zeigen sollen. Es handelt sich um die Videoaufnahmen einer Drohne, die über eine schneebedeckte Landschaft in Richtung einer größeren Rauchwolke fliegt. Vereinzelt sind kleine Häuser entlang einer Straße zu erkennen. Die Drohne nähert sich einem Panzer von hinten, der offenbar mehrmals schießt, woraufhin es zu weiterer Rauchentwicklung kommt. Auch hier endet das Video damit, dass die Drohne im Panzer einschlägt.
In einem zweiten Video sind wiederum die Aufnahmen einer weiteren Drohne zu sehen, die mutmaßlich denselben Vorfall aus etwas weiterer Entfernung zeigt. Hier ist der Panzer von der Seite zu erkennen, nach dem Treffer am Heck kommt es zu einem Brand. Drei Männer verlassen den Panzer daraufhin und laufen in ein naheliegendes Gebäude.
Bei diesem Beispiel bestätigt Remmel ebenfalls die Angabe der OSINT-Experten, dass es sich um einen Leopard-Panzer des Typs 2A6 handelt. Das sei anhand mehrerer Merkmale zu erkennen. Kurz vor dem Einschlag der Drohne in das Heck des Panzers ist neben dem Leitkreuz auch die für den Leopard-2-Kampfpanzer charakteristische gefächerte sogenannte Gräting zu sehen. "Durch diese kommt Kühlluft an den Motorraum beziehungsweise heiße Luft wird nach außen abgeleitet", sagt Remmel.
In dem zweiten Drohnenvideo ist zu sehen, wie der Panzer nach dem Drohnentreffer noch auf ein Gebäude in der Nähe schießt. In der Seitenansicht ist zudem das lange Geschützrohr des Panzers zu sehen, wie es typisch für den Leopard des Typs 2A6 und der neueren Varianten sei. Bei dem Leopard 2A4 und 2A5, die ebenfalls in der Ukraine im Einsatz sind, seien die Rohre kürzer.
Auch hier Hinweise für Region Kursk
Laut eines Kommentars in einem Telegram-Kanal soll es sich bei dem Ort ebenfalls um die Region Kursk handeln, nur wenige Kilometer südlich vom Ort der Attacke gegen den Marder-Panzer und rund zweieinhalb Kilometer Luftlinie von der Grenze zur Ukraine entfernt.
Das Gebäude, in dem die Personen aus dem Panzer offenbar Unterschlupf suchen, steht in der russischen Ortschaft Dar'ino. Satellitenaufnahmen von dort scheinen mit dem Drohnen-Material übereinzustimmen. Doch auch hier ist eine eindeutige Zuordnung schwierig.
Gute Panzerung als wichtiger Vorteil
Die begründete Vermutung, dass bei den drei Beispielen trotz Treffer die Besatzung überlebt hat, spricht aus Sicht von Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München, für die hohe Qualität der deutschen Waffenlieferungen. "Was das deutsche Gerät auszeichnet, ist die gute Panzerung." Ganz oft überlebe die Besatzung dadurch den Beschuss. Aus Sicht von Remmel ist das ein großer Vorteil: "Das schont Menschenleben und erspart die Ausbildung neuer Besatzungen." Zudem sei es als Soldat psychologisch sehr wichtig, mit dem Gefühl ins Gefecht zu gehen, dass das Fahrzeug einen schützt.
Masala hält deswegen mehr Lieferungen solcher Fahrzeuge an die Ukraine für sinnvoll: "Da würde ich sagen, kann man noch einiges nachlegen." Dass es dennoch zu Verlusten auch von deutschem Kriegsgerät kommt, ist aus seiner Sicht nicht überraschend. "Das ist ein Krieg und das Gerät wird eingesetzt. Dass es dabei auch zerstört wird, ist normal." Außerdem seien die Angaben von Seiten wie Oryx mit Vorsicht zu genießen. "Sie geben einen annähernden Eindruck über die Verluste von beiden Seiten. Aber letzten Endes ist es extrem schwierig, die genau nachzuweisen."