Bundestagswahl 2025

Wahlrechtsreform Wahlkreis gewonnen, Mandat verfehlt
Der nächste Bundestag wird deutlich kleiner. Grund ist das neue Wahlrecht. Allerdings dürfte die Regelung auch Nebenwirkungen haben. Denn ein Sieg im Wahlkreis bedeutet nicht mehr automatisch einen Sitz im Parlament.
Die Tage sind derzeit lang für Sertac Bilgin. Der 43-Jährige ist CDU-Bundestagskandidat im Wahlkreis Ludwigshafen-Frankenthal. Bilgin will erstmals in den Bundestag. "Um 5 Uhr morgens geht es los mit dem Wahlkampf an Bahnhöfen oder vor den Werkstoren der BASF. Abends bin ich zum Beispiel bei Verbänden und zuletzt auch bei Fastnachtsveranstaltungen. Das geht dann auch in die Nacht rein", erzählt Bilgin. Trotzdem mache ihm der Wahlkampf Spaß.
Gleichzeitig ist Bilgin Unternehmer und leitet einen Pflegedienst. Er tritt im gleichen Wahlkreis an wie einst Helmut Kohl. Der ehemalige CDU-Chef konnte zweimal das Direktmandat für die Region holen. Bilgin hat laut Umfragen gute Chancen, zu gewinnen.
Ob er tatsächlich nach Berlin darf, ist fraglich. Grund ist das neue Wahlgesetz. Und das ist kompliziert.
Drinnen und doch draußen
Die Ampelkoalition hatte vor zwei Jahren gegen massiven parlamentarischen Widerstand ein neues Wahlrecht durchgesetzt. Das Gesetz war auch zur Prüfung beim Bundesverfassungsgericht. Teile davon wurden gestrichen. Die Regelung rund um die Grund- und Ausgleichsmandate blieb aber bestehen.
Der Auslöser des gesamten Streits: Die Zahl der Bundestagsabgeordneten war über die Jahre stetig gestiegen - auf zuletzt 736 Abgeordnete. Das führte zu immer höheren Kosten. Deshalb wurde die Zahl per Gesetz auf 630 Abgeordnete begrenzt.
Dafür wurde das bisher geltende Prinzip der Überhang- und Ausgleichsmandate gestrichen. Überhangmandate entstanden, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Kandidaten in den Bundestag entsenden konnte als ihr nach der Anzahl der Zweitstimmen in einem Bundesland zustanden. Diese Überhangmandate für eine Partei wurden durch die Vergabe zusätzlicher Sitze an die anderen Parteien ausgeglichen. So war der Bundestag immer größer geworden.
Nicht jeder Wahlkreissieger kommt in den Bundestag
Die Folge der neuen Begrenzung ist, dass nicht mehr jeder Wahlkreissieger automatisch in den Bundestag kommt. Konkret heißt das für die CDU in Rheinland-Pfalz: Derzeit könnte die CDU laut Umfragen alle 15 Wahlkreise gewinnen. Gleichzeitig sorgt das neue Wahlrecht dafür, dass die Direktkandidaten nur dann in den Bundestags einziehen, wenn das Ergebnis auch von der Anzahl der Zweitstimmen für die Partei gedeckt ist. Aktuell sieht es so aus, als ob die CDU in Rheinland-Pfalz somit nur auf 13 Mandate kommt. Zwei gewählte Volksvertreter könnten also trotz Wahlkreissieg doch verlieren - einer davon: Sertac Bilgin.
"Das neue Wahlrecht ist Nonsens", klagt Bilgin. "Das Gesetz der Ampel ist unfair und weltfremd. Die Bürger können das nicht nachvollziehen. Das ist ein Förderprogramm für Politikverdrossenheit und Radikale."
Erst am Montag dürfte klar sein, ob Bilgin es nach Berlin schafft. Das hängt nicht nur von den Ergebnissen in Rheinland-Pfalz ab. Je mehr Parteien in den Bundestag kommen, desto mehr Kandidaten ziehen über die Zweitstimme der jeweiligen Partei ein. Dann gibt es auch weniger Direktmandate zu verteilen. Aus dem vermeintlich sicheren Direktmandat ist also de facto ein Wackelmandat geworden.
Einige Städte bleiben wohl außen vor
Und es gibt eine weitere Konsequenz aus dem neuen Wahlrecht: Vor allem Wahlsieger aus größeren Städten könnten das Nachsehen haben. Denn: In Städten sind die Ergebnisse oft deutlich knapper als auf dem Land. Im Westen hat vor allem die CDU ihre Hochburgen mit deutlichem Vorsprung vor der Konkurrenz. Im Osten ist es die AfD. Nach dem neuen Gesetz gilt: Je klarer der Sieg in einem Wahlkreis, desto größer die Chance, auch in den Bundestag zu kommen. Einige Metropolen bzw. Städte könnten also nicht mehr im Bundestag repräsentiert werden, wenn niemand über die Landesliste einzieht.
"Ludwigshafen hat große Infrastruktur-Aufgaben vor sich. Auch mit der BASF als Industriestandort sollte die Stadt bundesweit im Plenum vertreten werden", ärgert sich Bilgin. "Eine ganze Region könnte demokratisch unter den Tisch fallen, denn unserer Nachbarstadt Mannheim in Baden-Württemberg droht das gleiche Schicksal." Dort tritt die ehemalige Grünen-Politikerin Melis Sekmen für die CDU an und hat wohl gute Chancen auf eine Direktwahl. Auch sie könnte aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in Baden-Württemberg außen vor bleiben.
"Vertrauen in Demokratie wird beschädigt"
Das Ziel war richtig, aber die Umsetzung ist misslungen", sagt auch Volker Boehme-Neßler. Er ist Professor für Öffentliches Recht sowie Medien- und Telekommunikationsrecht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
"Der Bundestag war viel zu groß und in manchen Bereichen kaum noch arbeitsfähig", urteilt der Jurist. "Dass Wahlsieger, also gewählte Volksvertreter, nicht mehr in das Parlament dürfen, hat aus meiner Sicht eine fatale Wirkung auf die Bürger", so der Staatsrechtler.
Die Bevölkerung erlebe in den Wahlkämpfen auf dem Marktplatz oder bei Veranstaltungen Demokratie hautnah zum Anfassen - und dann bekomme der Kandidat keinen Sitz im Parlament. "Das zentrale Element der direkten Demokratie wird beschädigt und so das Vertrauen in die Demokratie."
Städte weniger im Bundestag vertreten?
Der Staatsrechtler geht in seiner Analyse noch einen Schritt weiter. "In der Konsequenz führt dieses Gesetz nur zur Stärkung der Macht der Parteien. Die Listenkandidaten, die über die Zweitstimme der Partei in den Bundestag kommen, werden gestärkt. Diese Listen werden aber, wenn ich es böse formuliere, im Hinterzimmer von Funktionären ausgekungelt", so Boehme-Neßler.
Der Jurist fürchtet auch, dass vor allem Städte künftig weniger im Bundestag vertreten sein könnten. "Viele Wähler werden am Montag ein böses Erwachen haben, denn sie wissen noch gar nichts von der Wirkung des neuen Gesetzes. Dieses Wahlsystem ist zu kompliziert, der Mechanismus kaum nachvollziehen und am Ende lebensfremd."
Reform nach der Reform?
Für Sertac Bilgin dürfte es eine lange Wahlnacht werden. Erst nach Auszählung aller Stimmen bundesweit weiß er, ob er als Angeordneter nach Berlin darf - sofern sich die guten Prognosen für ihn in Ludwigshafen-Frankenthal auch bestätigen. "Ich wusste von Anfang an, worauf ich mich mit diesem Wahlrecht eingelassen habe. Und selbst wenn ich gewinne und doch draußen bleiben müsste, würde ich es wieder tun. Es geht um die Menschen in der Region, für die ich etwas bewegen will", so Bilgin.
Die Christdemokraten haben bereits angekündigt, in der neuen Legislaturperiode eine neue Regelung verabschieden zu wollen. Aber wie könnte die aussehen? Staatsrechtler Boehme-Neßler hat einen konkreten Vorschlag: Der Jurist will zunächst das alte Gesetz als Grundlage - wer den Wahlkreis gewinnt, ist auch im Bundestag.
Um Überhang- und Ausgleichsmandate zu verhindern, schlägt Boehme-Nessler eine einschneidende Reform vor: "Die Anzahl der Wahlkreise muss neu zugeschnitten werden und der Anzahl der Sitze im Bundestag entsprechen", so der Jurist. Aber: "Die Parteien wollen ihre politischen Erbhöfe erhalten. Es geht um politische Macht. Deshalb bin ich skeptisch, ob es bei einer weiteren Reform wirklich eine Entscheidung im Sinne der Bürger gibt."