Migranten gehen über das Gelände der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber (ZABH) des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt.
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Leistungsausschluss für Dublin-Fälle Wenig Daten und rechtlich fragwürdig

Stand: 01.04.2025 06:04 Uhr

Die Ampel hatte Leistungskürzungen für "Dublin-Flüchtlinge" beschlossen. Nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios hakt es bei der Umsetzung. Über eine Ausweitung wird trotzdem diskutiert.

Von Philipp Eckstein und Claudia Kornmeier, ARD-Hauptstadtstudio

Anfang des Jahres streicht die Stadt Baden-Baden zwei Türkinnen die Asylbewerberleistungen, fordert die Frauen auf, ihre Zimmer in einer Gemeinschaftsunterkunft innerhalb von drei Tagen zu räumen und tauscht dafür bereits die Türschlösser aus. Der Grund: Die Frauen müssen in Kroatien Asyl beantragen, weil sie über das Land nach Deutschland eingereist sind.

Baden-Baden wendet damit eine Regelung an, die seit fünf Monaten gilt: Menschen, die ihr Asylverfahren in einem anderen europäischen Staat durchführen müssen, sollen in Deutschland nur noch in Ausnahmefällen Sozialleistungen erhalten. Sie erhalten maximal zwei Wochen Unterstützung und sollen so zu einer Ausreise bewegt werden.

Interpretationshilfe aus dem Innenministerium

Das ARD-Hauptstadtstudio hat bei Bund und Ländern nachgefragt und interne Dokumente ausgewertet. Das Ergebnis: Eine bundesweite statistische Erfassung, wie oft die neue Regelung bislang angewandt wurde, findet nicht statt. Gerichte und mehrere Länder gehen davon aus, dass ein vollständiger Leistungsausschluss gegen Verfassungs- und Europarecht verstößt und selbst das Bundesinnenministerium liefert eine Interpretationshilfe, die einen Weg beschreibt, Hilfen auch über das gesetzliche Zweiwochenlimit hinaus zu gewähren.

Obwohl sich damit weitgehend bewahrheitet, wovor Kritiker im Gesetzgebungsverfahren gewarnt hatten, diskutieren CDU, CSU und SPD im Rahmen der Koalitionsverhandlungen bereits über weitere Leistungskürzungen. Das zeigt der Abschnitt zu den Themen Asyl und Migration im Arbeitspapier der zuständigen Verhandlungsgruppe.

Anschlag in Solingen und die Folgen

Vergangenen Sommer, in den Tagen nach dem tödlichen Anschlag von Solingen, diskutierte die Politik über sogenannte Dublin-Fälle, weil der mutmaßliche Täter eigentlich bereits nach Bulgarien hätte abgeschoben werden sollen. Um Menschen, die unter die EU-Dublin-Verordnung fallen, künftig dazu zu bewegen, schneller und bestenfalls auch freiwillig auszureisen, reagierte die damalige Ampelkoalition mit einer Gesetzesverschärfung.

Sobald ein anderer Staat anerkenne, dass er einen Flüchtling wieder aufnehmen müsse, sagte Bundesinnenminister Nancy Faeser (SPD) bei der Vorstellung der Maßnahme Ende August 2024, sei das "der Zeitpunkt, wo wir Leistungen kürzen wollen und zwar auf gar nichts, sondern nur noch auf Rückreise". Der damalige Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) erklärte kurz darauf im Bundestag, dass für "anerkannte Dublin-Fälle die Transferleistungen auf null, bis auf das Rückführticket in das zuständige Land", reduziert werden. 

Ende Oktober trat eine entsprechende Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes in Kraft. Seit dem 31. Oktober 2024 gilt, mit wenigen Ausnahmen: Ist eine Ausreise in das zuständige EU-Land "rechtlich und tatsächlich" möglich, besteht kein Anspruch mehr auf Sozialleistungen in Deutschland. Hilfe darf nur noch zur Überbrückung bis zur Ausreise gewährt werden - maximal für zwei Wochen und das lediglich als Sachleistung, Geld darf nicht ausgezahlt werden.

Einen falschen Eindruck erweckt?

Wie das neue Gesetz in der Praxis umgesetzt werden kann, sorgt in den Ländern offenbar für Nachfragen. Aus einem vierseitigen Schreiben, das dem ARD-Hauptstadtstudio vorliegt, geht hervor: Selbst aus Sicht des Bundesinnenministeriums ist nicht eindeutig klar, was die Neuregelung in der Praxis bedeutet.

In dem Schreiben von Anfang Februar, adressiert an die Hamburger Innenbehörde, wird "eine von mehreren möglichen Auslegungen" skizziert. Dabei wird deutlich, dass auch das Innenministerium anerkennt, dass auf Grund des "komplexen Zusammenwirkens der Mitgliedstaaten im Überstellungsprozess" eine Ausreise für Dublin-Flüchtlinge in der Regel keineswegs freiwillig und selbstständig innerhalb von zwei Wochen möglich ist.

Das war auch zum Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens bekannt. Dennoch wurde in der Öffentlichkeit ein anderer Eindruck erweckt und auch in der Gesetzesbegründung steht, dass eine "selbstinitiierte Ausreise" in der Regel "innerhalb von zwei Wochen möglich" sei, "wenn der Transfer gewährleistet ist".

Dublin-Abkommen
Laut dem Dublin-Abkommen müssen Flüchtlinge in der Regel in dem EU-Land einen Asylantrag stellen, in dem sie erstmals die Europäische Union betreten haben. Es soll immer nur ein EU-Staat für ein Asylverfahren zuständig sein und vermieden werden, dass in mehreren EU-Staaten Asylanträge gestellt werden.

In bestimmten Fällen können andere Länder aber die Durchführung der Asylverfahren übernehmen - etwa aus humanitären Gründen. Das Dublin-Abkommen gilt seit dem 1. September 1997.

Versorgung auch über zwei Wochen hinaus

In seinem Schreiben vom Februar stellt das Innenministerium zudem fest: Den Ländern stehe es offen, Maßnahmen zu ergreifen, Betroffene länger als für zwei Wochen zu versorgen. "Die Versorgung erfolgt grundsätzlich nicht als Asylbewerberleistung." Darüber hinaus bleibe es den Behörden "unbenommen, eine Versorgung aus Gründen der Billigkeit oder auf Basis des Ordnungsrechts zu gewähren".

Das könnte man in etwa so übersetzen: Die Bundesländer können trotz der Gesetzesänderung wie bisher Hilfen erbringen. Sie sollen diese dann nur nicht "Asylbewerberleistung" nennen. Denn so kann auf politischer Ebene weiterhin gesagt werden, man habe die Migrationspolitik gegenüber sogenannten Dublin-Fällen verschärft.

Länder geben Hinweise zur Umsetzung

Und genau so gehen auch mehrere Bundesländer vor. So hat etwa Rheinland-Pfalz einen Umsetzungshinweis an die zuständigen Behörden verschickt - mit langen Ausführungen zu europa- und verfassungsrechtlichen Bedenken und Anwendungshinweisen.

Das Ergebnis: Die Neuregelung werde "nicht zu einer wesentlichen Änderung der bisherigen Verwaltungspraxis führen". Wie nach bisheriger Rechtslage sei im Wege der verfassungskonformen Auslegung "ein vollständiger Leistungsausschluss von hilfsbedürftigen Personen zwingend zu vermeiden". Überbrückungsleistungen seien deshalb bis zur tatsächlichen Ausreise zu gewähren.

Auch Bremen, Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern äußern sich auf Anfrage des ARD-Hauptstadtstudios ähnlich. 

Mehrere Sozialgerichte, auf deren Tischen in den vergangenen Monaten Bescheide über Leistungsausschlüsse landeten, argumentierten ebenfalls so. In Eilentscheidungen hoben sie Leistungsausschlüsse auf und stützten sich dabei meist auf europa- und verfassungsrechtliche Bedenken. Auch die beiden Türkinnen aus Baden-Baden hatten erfolgreich geklagt.

Bundesweite Daten gibt es nicht

Doch an einem bundesweiten Überblick fehlt es. Nicht erst bei der Frage, wie die örtlichen Behörden die Umsetzung handhaben. Es fängt schon bei der simplen Frage an, wie häufig es zu einem vollständigen Leistungsausschluss überhaupt gekommen ist.

Von der Bundesregierung heißt es, die Fälle würden "noch nicht bundesweit statistisch erhoben". Das habe man ändern wollen, daraus sei aber nichts mehr geworden.

Und so ziehen sich auch viele der Bundesländer darauf zurück, dass sie nicht dazu verpflichtet sind, dies statistisch zu erfassen. Auf Anfrage des ARD-Hauptstadtstudios teilen acht Länder mit, dass sie keine Daten zu Leistungsausschlüssen haben (Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Berlin, Brandenburg, Saarland, Sachsen-Anhalt, Thüringen).

Vier Länder (Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen) teilen mit, dass es bislang keine Fälle eines vollständigen Leistungsentzugs gab.

Hamburg nennt 21 Fälle. Hessen schreibt, in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes würden aktuell rund 250 solcher Verfahren durchgeführt. Rheinland-Pfalz nennt 175 Fälle - wobei das Ministerium zugleich auf gewährte Überbrückungsleistungen hinweist, die, folgt man den Verwaltungsanweisungen aus dem Land, weit über das Zweiwochenlimit hinausreichen. Schleswig-Holstein möchte noch Zahlen nachliefern.

Keine Daten, kein Fazit

Das heißt: Es lässt sich fünf Monate nach Inkrafttreten der neuen Regelung kaum beurteilen, was der Leistungsausschluss für Dublin-Fälle überhaupt gebracht hat. Klar ist allerdings: So wie von der Bundesregierung angekündigt und im Gesetz eindeutig aufgeschrieben, wird die Regelung nicht umgesetzt.

Auf die Frage, ob öffentlich ein falscher Eindruck erweckt worden sei, teilt ein Sprecher des Innenministeriums mit: Das Ministerium halte die Anwendung der Regelung "für möglich". Aber: Die Länder führten das Asylbewerberleistungsgesetz "in eigener Angelegenheit" aus.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 01. April 2025 um 08:09 Uhr.