
Nach Mitgliedervotum "Esken hat kein machtvolles Netzwerk in der SPD"
Die hohe Zustimmung der SPD-Basis zum Koalitionsvertrag mit der Union ist bemerkenswert, sagt Politikwissenschaftler Faas im Interview. Die Zukunft der Co-Parteichefin Esken sei offen - trotz früherer Verdienste um die Partei.
tagesschau24: Die SPD hat für den Koalitionsvertrag gestimmt. Wie schwer muss der Parteibasis das gefallen sein?
Thorsten Faas: Das ist eine sehr, sehr große Zustimmung. 84 Prozent ist der höchste Wert, wenn man das mit früheren Mitgliederentscheiden der SPD vergleicht: Wir hatten einen 2013 mit 76 Prozent, 2018 waren es nur noch knapp zwei Drittel, die zugestimmt haben.
Dass jetzt der Anteil deutlich ansteigt, ist überraschend. Es zeigt, dass sich offenkundig das Bild einer großen Koalition - oder vielleicht sollte man sagen, einer Koalition aus Union und SPD - nach den Jahren der Ampel sehr gewandelt hat. Dass gutes, verlässliches Regieren mehr gilt, als das früher der Fall war, und dass das offenkundig Argumente sind, die die SPD-Mitglieder überzeugt haben.

Er ist Teil einer SPD-Kommission zur Aufarbeitung des Ergebnisses der Bundestagswahl 2025.
Gründe für die geringe Beteiligung
tagesschau24: Man muss allerdings relativieren: Die Beteiligung an diesem Mitgliederentscheid lag nur bei 56 Prozent. Was sagt das aus?
Faas: Das ist deutlich weniger, als das früher der Fall gewesen ist. Das liegt auch daran, dass es dieses Mal nicht so einfach war, sich zu beteiligen. Es ging eigentlich nur noch online, für alles andere waren die Hürden höher als früher.
Dass die Zustimmung trotzdem so hoch ist, ist eigentlich bemerkenswert. Analysen früherer Mitgliederentscheide haben gezeigt, dass es eher die älteren Mitglieder der SPD sind, die zustimmen. Wir haben ja auch bei dieser Runde erlebt, dass die Jusos beispielsweise kritisch waren. Man hätte also durchaus erwarten können, dass dieses eher auf Onlinewahl ausgerichtete Verfahren vorteilhaft gewesen wäre für diejenigen, die der neuen Koalition skeptisch gegenüberstehen. Aber das ist überhaupt nicht so.
Gleichwohl: Die Begeisterung der SPD ist dieses Mal nicht ganz so hoch. Es gab nicht ganz so viel Kampagne, das führt dann eben auch zu niedrigerer Beteiligung insgesamt.
Verhandlungserfolge der SPD
tagesschau24: Warum hat man trotzdem zugestimmt? Man hat ja deutlich unterschiedliche wirtschafts-, sozial- oder auch gesellschaftspolitische Vorstellungen.
Faas: Ich glaube, ein Punkt ist, dass das Bild von Schwarz-Rot sich zum Positiven verändert hat in den vergangenen Jahren - auch als Reaktion auf all den Frust, den es in der SPD mit der Ampel gegeben hat.
Man muss auch sehen, dass die Ereignisse seit der Bundestagswahl - insbesondere auch die Lockerung der Schuldenbremse - natürlich auch Erfolge waren, die die Verhandlerinnen und -verhandler der SPD haben durchsetzen können.
Schließlich kommt noch hinzu, dass man auch das eine oder andere, was man in der Ampelkoalition auf den Weg gebracht hat, ein Stück weit durch die Beteiligung in der neuen Regierung sichern möchte. Und eine AfD-Beteiligung an der Regierung, das will sicherlich niemand in der SPD haben. Offenkundig haben diese eher rationalen Argumente deutlich überwogen und zu dieser hohen Zustimmung geführt.
Klingbeil und Esken: "Eine bemerkenswerte Asymmetrie"
tagesschau24: Lars Klingbeil kann man sicherlich einen großen Anteil an diesen Verhandlungen mit zuschreiben. Aber jetzt ist natürlich die Frage, was passiert mit der Co-Vorsitzenden Saskia Esken?
Faas: Das ist zunächst mal eine bemerkenswerte Asymmetrie, die wir da sehen. Wir haben zwei Parteivorsitzende. Der eine startet jetzt durch, wird offenkundig nach allem, was man so hört, der starke Mann der SPD in der Bundesregierung. Und auf der anderen Seite die Co-Vorsitzende, von der gar nicht klar ist, ob sich überhaupt ein Platz für sie findet.
Das ist schon sehr bemerkenswert, aber auch da merkt man die Wichtigkeit und den Einfluss von Netzwerken in der Partei. Dass Saskia Esken damals überhaupt den Parteivorsitz übernommen hat, zusammen mit Norbert Walter Borjans, war ein echter Coup. Seitdem merkt man immer wieder, dass ihr die Frauen in der SPD und auch die Linken der SPD zur Seite springen, aber dass sie trotzdem kein starkes machtvolles Netzwerk in der SPD hat.
Deswegen kämpft sie jetzt öffentlich, weil sie offenkundig nicht in der Lage ist, das hinter den Kulissen für sich zu regeln. Der Ausgang scheint in der Tat sehr, sehr offen zu sein.
Ob das fair ist oder nicht, kann man durchaus diskutieren. Ich glaube, dass Saskia Esken einen großen Beitrag auf dem Weg der SPD hin zur Kanzlerschaft Scholz hatte. Aber Dankbarkeit ist an der Stelle sicher keine Kategorie in der Politik, das erleben wir auch in diesen Zeiten.
Verlässliches Regieren statt Visionen?
tagesschau24: Man sieht sich in der Verantwortung für Deutschland, so zumindest lautet die Überschrift des Koalitionsvertrags. Aber wie klingt dieser Titel für Sie? Wie viel inhaltliche Vision steckt in dieser Koalition?
Faas: Ich glaube, dieses "Verantwortung für Deutschland", gerade auch im Gegensatz zu einer Fortschrittskoalition, ist ein bewusstes Signal, dass es nicht so sehr um inhaltliche Projekte geht. Das hat der Kanzler in spe, Friedrich Merz, auch gesagt: Das sei hier gar kein Projekt, sondern man wolle eben einfach verlässlich gut regieren.
Dafür stehen diese drei Parteien CDU, CSU und SPD natürlich auch. Sie sind die Parteien, die bisher Kanzlerinnen und Kanzler gestellt haben und ich glaube, dass man sich genau darüber profilieren will: über die Art und Weise, wie man zusammenarbeitet, dass man Dinge auf den Weg bringt und auch löst, dass man Verantwortung übernimmt, aber dass man nicht so sehr so eine inhaltliche Vision drüber stülpen möchte.
Ich glaube, dass das ein bewusstes Signal ist: mehr Methode, weniger Inhalt, wenn man so will. Ob das am Ende begeistert, ist eine ganz andere Frage.
Merz setzt auf loyale Ministerriege
tagesschau24: Die Union hat ihre Nominierten für die Ministerämter schon vorgestellt. Da geht es natürlich nicht nur um Qualifikationen, sondern auch um Regionalproporz, um Geschlechterverteilung. Hat man da unter diesen Vorzeichen die Richtigen gefunden?
Faas: Wenn man sich das Tableau anschaut, kann man feststellen, dass Friedrich Merz nicht über ein riesiges Netzwerk in der Union verfügt, dass er an vielen Stellen auf Personen zurückgegriffen hat, mit denen er in der jüngeren Vergangenheit enger zusammengearbeitet hat. Viele aus der engeren Fraktionsführung sind jetzt zu Ministerinnen und Ministern geworden.
Wolfram Weimer, der Kulturstaatsminister, ein durchaus enger Vertrauter von Merz, passt ja auch durchaus zur Situation, die Merz in der Union hat. Er hat von der einen oder anderen Seite nicht immer nur Zustimmung erfahren. Ich würde das so deuten, dass er jetzt sicherstellen möchte, dass diese Regierung, dass seine Leute loyal zu ihm stehen.
Das sind keine bekannten Gesichter, da muss jetzt schnell viel passieren, dass die Menschen diese Ministerinnen und Minister kennenlernen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, das ist sicher eine der großen Aufgaben, die jetzt vor der neuen Riege liegen.
Ringen um Posten bei der SPD
tagesschau24: Bekannt und beliebt auf Seiten der SPD ist ja Boris Pistorius. Der ist wahrscheinlich gesetzt für das Amt des Verteidigungsministers. Mit wem rechnen Sie darüber hinaus?
Faas: Das ist tatsächlich eine große Frage und ich glaube, dass es nicht nur Symbolpolitik war, zu sagen, wir verkünden das noch nicht, wir warten erstmal das Ergebnis des Mitgliederentscheids ab. Sondern dass noch viel hinter den Kulissen gerungen wird.
Da sind viele Proporze zu berücksichtigen: jung, alt, Erfahrungen, aber auch neue Gesichter, Geschlechterparitäten, Ost, West, regionale Proporze. Das ist etwas, was oft bis in die letzten Stunden ausverhandelt wird. Da wird innerparteiliche Macht deutlich - oder eben auch nicht. Für ostdeutsche Landesverbände ist das ein Problem, weil sie einfach wenig Mitgliederstärke in der Partei haben.
Man darf wirklich gespannt sein. Es scheint mir deutlich offener zu sein, als die eine oder die andere Liste das zuweilen zu suggerieren vermag.
Der Posten gilt als wichtigster neben dem des Kanzlers. Besetzen soll ihn SPD-Chef Lars Klingbeil.
Verteidigung
Boris Pistorius hat sich während Russlands Krieg gegen die Ukraine ein klares Profil erarbeitet und gilt auch deshalb als gesetzt.
Arbeit und Soziales
Der bisherige Arbeitsminister Hubertus Heil könnte abgelöst werden von der früheren Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. Auf der Liste der möglichen Kandidaten tauchen aber auch SPD-Chefin Saskia Esken und die sächsische Sozialministerin Petra Köpping auf.
Entwicklung
Svenja Schulze könnte möglicherweise ihren Posten behalten. Wenn Esken ins Kabinett wechseln möchte, könnte das aber auch ein Posten für sie sein.
Umwelt und Klimaschutz
Für den Posten wird SPD-Generalsekretär Matthias Miersch gehandelt. Möglicherweise könnte aber auch die bisherige Entwicklungsministerin Svenja Schulze das Ressort wechseln. Weitere Kandidatinnen: Parlamentsgeschäftsführerin Katja Mast und die stellvertretende SPD-Fraktionschefin Verena Hubertz.
Bauen und Wohnen
Als möglicher Nachfolger von Klara Geywitz wird der bisherige Ostbeauftragte Carsten Schneider gehandelt.
Justiz und Verbraucherschutz
Im Gespräch ist unter anderem die brandenburgische Bundestagsabgeordnete und Richterin Sonja Eichwede.
Das Gespräch führte Romy Hiller für tagesschau24. Es wurde für die schriftliche Version redigiert und gekürzt.