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interview

Koalitionsverhandlungen "Gebrochene Wahlversprechen brennen sich ein"

Stand: 31.03.2025 15:41 Uhr

Das Ringen um den Koalitionsvertrag ist auch eine Nagelprobe für Wahlversprechen. Die meisten von ihnen würden auch umgesetzt, sagt Politikwissenschaftlerin Matthieß. Gebrochene Versprechen würden mit Vertrauensverlust bestraft.

tagesschau.de: Vor dem Altar versprechen sich Heiratswillige Treue und Beistand. Das ist das Eheversprechen. Politiker wollen den Wähler auch an sich binden, Vertrauen schaffen. Das ist das Wahlversprechen. Ein zu romantischer Vergleich?

Theres Matthieß: Nein, das passt ganz gut. Das Versprechen hat in fast jeder sozialen Beziehung eine große Bedeutung. So verbindlich wie das formalisierte Ehegelübde sind Wahlversprechen zwar nicht. Nichtsdestoweniger sind die Mechanismen sehr ähnlich: Wenn im Freundeskreis jemand etwas verspricht, erwarten wir, dass die Person sich daran hält. Dasselbe gilt bei Politikern und Politikerinnen.

Wird sich einmal oder öfter nicht an das Versprechen gehalten, bedeutet das einen Vertrauensverlust und der Betroffene fragt sich, ob er mit jener Person oder eben auch Partei noch etwas zu tun haben möchte.

Theres Matthieß
Theres Matthieß
Prof. Dr. Theres Matthieß leitet die Juniorprofessur für Empirische Demokratieforschung an der Georg-August Universität Göttingen. Ihre Forschungsinteressen umfassen vergleichende Politikwissenschaft, Parteienwettbewerb, Wahlverhalten, politische Repräsentation und demokratische Legitimität. 

tagesschau.de: Droht dieser Vertrauensverlust vor allem jetzt, wenn in Koalitionsverhandlungen Wahlversprechen nicht gehalten werden können?

Matthieß: Jetzt ist ein ganz wichtiger, oft unterschätzter Zeitpunkt. Es wird um das Regierungsprogramm gerungen, es ist ein Aushandlungsprozesses und Tauschhandel von Wahlversprechen. Wir wissen aus der Forschung: Wahlversprechen, die in einen Koalitionsvertrag einfließen, werden auch mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit umgesetzt. Allerdings: Ein Garant dafür, Wahlversprechen einzulösen, ist der Koalitionsvertrag wiederum nicht. Die FDP zum Beispiel sah sich 2009 sehr zufrieden mit den Koalitionsverhandlungen, hat dann aber trotzdem viele Wahlversprechen nicht umgesetzt und ist 2013 aus dem Bundestag gewählt worden.

tagesschau.de: Das war ein Zeitraum von vier Jahren. Erinnert sich die Wählerschaft tatsächlich so lange an Wahlversprechen?

Matthieß: Sie merkt sich durchaus, ob für sie wichtige Wahlversprechen eingehalten wurden oder nicht, wenn sie zum Beispiel persönlich betroffen ist. Bekommen Eltern nicht wie versprochen mehr Kindergeld oder Verbesserungen im Bereich Schule, sind das real spürbare Folgen und haben Konsequenzen für die Wiederwahl dieser Partei: Wozu neuen Wahlversprechen Glauben schenken, wenn die alten nicht eingelöst wurden?

Wir haben beispielsweise Wahldaten aus 16 Ländern über den Zeitraum von 20 Jahren verglichen. Was sich feststellen ließ: Die Umsetzung von Wahlversprechen kann den Erfolg von Parteien bei der nächsten Wahl gut vorhersagen. Die Stimmenverluste steigen, desto weniger Wahlversprechen gehalten werden. Und gebrochene Wahlversprechen brennen sich ein.

Je konkreter ein Versprechen, desto überprüfbarer ist es

tagesschau.de: Zwei solcher Wahlversprechen könnten nun die Schuldenbremse oder auch die Abschaffung des sogenannten Heizungsgesetzes der vorherigen Regierung werden. Sind das prototypische Wahlversprechen, die - nicht umgesetzt - zu einer Hypothek für die nächste Wahl werden?

Matthieß: Es gibt Wahlversprechen wie "Wir machen etwas für den Klimaschutz" oder "Wir setzen uns für die Gerechtigkeit aller Menschen ein", die viel Spielraum zur Interpretation geben und deshalb schwer zu überprüfen sind. Die beiden Wahlversprechen "Schuldenbremse" und "Heizungsgesetz" sind hingegen sehr konkrete und somit überprüfbare Wahlversprechen. Beide erhielten im öffentlichen Diskurs und den Medien viel Aufmerksamkeit.

Das führt aber zu einem Zerrbild: Manche Parteien haben 400 Versprechen in ihrem Wahlprogramm und wir können sehen, dass durchschnittlich 50 bis 60 Prozent davon auch umgesetzt werden. Das kommt in der Gesellschaft aber nicht an. Das Narrativ, dass Parteien nur das Blaue vom Himmel versprechen, ist in der Gesellschaft sehr tief verankert. So entsteht ein sehr unausgeglichenes Bild vom Wahlversprechen, obwohl das in vielen Fällen nicht gerechtfertigt ist.

tagesschau.de: Trägt das zu Umfrageergebnissen bei, wonach Politiker auf der Beliebtheitsskala und der Glaubwürdigkeitsskala am unteren Ende gesehen werden?

Matthieß: Auf jeden Fall. Experimental-Studien zeigten: Die Information über ein gebrochenes Versprechen kann zu Vertrauensverlust führen und in der Folge zu einem veränderten Wahlverhalten. Die Information über ein eingehaltenes Versprechen hingegen führt aber nicht zu einem Wachsen des politischen Vertrauens. Dass hier die Balance fehlt, ist demokratietheoretisch kritisch zu beurteilen. Denn populistische Parteien können auf dieses Narrativ aufspringen und es nähren - in dem sie beispielsweise immer wieder behaupten, die etablierten Parteien würden sich nie an Versprechen halten. Populistische Parteien tun das, obwohl wir sehen können, dass das Narrativ nicht stimmt.

Versprechen der Opposition unterliegen nicht dem Realitätscheck

tagesschau.de: Kann, wer nicht regiert, laxer Wahlversprechen machen?

Matthieß: Das hängt vom politischen Setting ab: Bei Minderheitsregierungen wie Sachsen oder Thüringen hat eine Oppositionspartei eine andere Rolle und kann politisch mitgestalten. Auch im Bund können über Ausschüsse oder im Bundesrat Wahlversprechen eingebracht werden. Zu unterscheiden sind dann Parteien, die temporär in der Opposition sind, aber mit der nächsten Wahl wieder in Regierungsverantwortung kommen können und Erfahrung mit Wahlversprechen haben.

Oppositionsparteien ohne Regierungsaussichten und -erfahrung können Versprechen machen, die einen Realitätscheck nicht in Koalitionsverhandlungen und der politischen Praxis bestehen müssen.

tagesschau.de: Die Union rechtfertigt neue Schulden mit der angeblich unerwarteten Politik Amerikas. Sind solche äußeren Umstände eine legitime Erklärung, wenn Wahlversprechen nicht gehalten werden?

Matthieß: Das ist natürlich ein wichtiger Faktor, weil politische Entscheidungen nicht immer vorhersehbar sind. Das haben wir gerade in den vergangenen Jahren erlebt: Aussetzen der Schuldenbremse wegen der Corona-Pandemie; Fukushima, was zu einem Umdenken in der Atomenergie geführt hat. Das ist Anpassen an die äußeren Umstände. Die Gesellschaft muss deshalb eine gewisse Resilienz entwickeln.

Wolfgang Schäuble sagte mal, das Parlament sei keine notarielle Veranstaltung, in der einfach Koalitionsverträge abgearbeitet werden. Politik heißt eben auch, genau die aktuelle Situation mit in Betracht zu ziehen und abzuwägen. Trotzdem sollte eine Partei innerhalb ihrer Leitlinien bleiben.

tagesschau.de: Welche Schlüsse können Parteien aus Ihren Forschungen ziehen?

Matthieß: Zunächst muss der Prozess des Entwerfens des Wahlprogramms ernst genommen werden. Findet der Wähler das Wahlprogramm nicht gut, ist er vielleicht auch mit der Umsetzung nicht zufrieden. Dann müssen Versprechen auch ernst genommen werden. Das machen auch die meisten Parteien. Doch wir sehen oftmals, dass sie zu selten die Notwendigkeit und die Vorteile benennen.

Denn die Maximalforderung im Wahlprogramm ist das eine. Es ist aber auch klar, dass eine Partei vieles davon aufgrund von Koalitionsvereinbarungen nicht einhalten kann. Offene Kommunikation und Erwartungsmanagement bei den Wählerinnen und Wählern ist zentral, um die Enttäuschung im Vorhinein einzudämmen.

Um Kompromisse zu ringen gehört zur Demokratie

tagesschau.de: Und was kann die Wählerschaft lernen, wenn sie Wahlversprechen im Koalitionsvertrag vermissen wird?

Matthieß: In einer Demokratie wie Deutschland ist eine Notwendigkeit, Kompromisse einzugehen. Das liegt einfach in der DNA unserer Demokratie. Unser Wahlsystem führt zu Koalitionen. Damit ist programmiert, dass keine Partei 100 Prozent ihrer Wahlversprechen umsetzen kann.

Das wäre auch gar nicht wünschenswert: Denn der Streit über die Idealvorstellungen der einzelnen Partei führt zu Kompromissen. Zur Demokratie und zum Pluralismus gehört, dass wir um die Ideen ringen und im Gegensatz zur Diktatur gemeinsam streiten, was der richtige Weg ist.

tagesschau.de: "Die Rente ist sicher", "blühende Landschaften", "am ersten Tag meiner Amtszeit werde ich den Ukraine-Krieg beenden": Es ist beeindruckend, wie Wahlversprechen sich im kollektiven Gedächtnis einnisten können.

Matthieß: Die "blühenden Landschaften" sind ein sehr gutes Beispiel. Es wirkt bis heute nach, weil sie vor allem in der Wahrnehmung vieler Menschen in Ostdeutschland nicht umgesetzt wurden. Viele erinnern sich auch noch an das FDP-Versprechen 2009, das süffisant "Mövenpick-Steuer" genannt wurde, eigentlich das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Das war ein Versprechen, das die FDP zwar umsetzte, dann aber gar nicht gut ankam. Es privilegierte eine gewisse Branche und war ein erfülltes Wahlversprechen, das abgestraft wurde. Denn das große Versprechen dahinter, nämlich mehr netto vom brutto für alle, setzte die FDP nicht um.

Ein interessantes Wahlversprechen übrigens, leider auch ein trauriges: die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Das steht seit Jahren in Wahlprogrammen mehrerer Parteien und es gibt immer wieder neue Versuche. Aber es scheitert am Ende an immer wieder an der konkreten Formulierung.

Das Interview führte Juri Sonnenholzner , SWR

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 31. März 2025 um 16:00 Uhr.