
Koalition von Union und SPD Was passiert, wenn die Verhandlungen scheitern?
Nach der heutigen Gesprächsrunde setzen Union und SPD ihre Koalitionsverhandlungen am Montag fort. Was für Konsequenzen hätte ein Scheitern? Würde es trotzdem eine Kanzlerwahl geben? Und welche Rolle spielt der Bundespräsident? Von Frank Bräutigam.
Kommt es bei gescheiterten Verhandlungen sofort zu Neuwahlen?
Nein. Falls die Koalitionsverhandlungen scheitern, kann es nach den Regeln des Grundgesetzes nicht direkt zu Neuwahlen kommen. Neuwahlen sind erst nach einer Auflösung des Bundestags möglich. Als "geschäftsführender Bundeskanzler" in der aktuellen Übergangszeit hat Olaf Scholz aber nicht das Recht, die Vertrauensfrage zu stellen und damit eine Auflösung plus Neuwahlen herbeizuführen.
Denn sein Amt beruht in dieser Zeit nicht auf dem Vertrauen des Parlaments. Es beruht darauf, dass der Bundespräsident ihn - wie vom Grundgesetz vorgesehen - gebeten hat, für die Übergangszeit im Amt zu bleiben. Der Bundestag hat auch nicht das Recht, selbst seine Auflösung zu beschließen und Neuwahlen herbeizuführen. Neuwahlen wären erst am Ende eines mehrstufigen Verfahrens zur Kanzlerwahl im Bundestag möglich.
Muss es zwingend den Versuch einer Kanzlerwahl geben?
Ja. Auch bei einem Scheitern von Koalitionsverhandlungen führt kein Weg daran vorbei, dass der Bundespräsident nach einer gewissen Zeit das Verfahren zur Kanzlerwahl im Bundestag einleitet, indem er einen Kandidaten oder eine Kandidatin zur Wahl vorschlägt. Üblicherweise schlägt der Bundespräsident die Person vor, die die besten Chancen auf eine Mehrheit im Bundestag hat. Das wäre nach einem Scheitern der Koalitionsverhandlungen schwierig.
Welche Rolle hätte der Bundespräsident?
Scheitern die Koalitionsverhandlungen, würde der Bundespräsident wohl zunächst einmal den "Startschuss" zur Kanzlerwahl im Bundestag weiter aufschieben. So eine Situation gab es nach der Bundestagswahl 2017. Die Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition von Union, Grünen und FDP waren damals gescheitert. Die SPD hatte vorher eine Große Koalition ausgeschlossen. Im Anschluss daran führte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier intensive Gespräche mit den Parteien, vor allem mit Union und SPD. Es folgte schließlich doch noch die Einigung auf eine Koalition.
Schließlich schlug er dem Bundestag Angela Merkel zur Wahl als Kanzlerin vor, die von der Mehrheit der damaligen Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD gewählt wurde. In einer Phase des Scheiterns von Koalitionsverhandlungen käme dem Bundespräsidenten also eine wichtige Rolle hinter den Kulissen zu.
Gibt es eine Frist für den Beginn der Kanzlerwahl?
Nein. Dazu gibt es keine ausdrücklichen Regeln. In den Fachbüchern zum Grundgesetz heißt es, dass der Bundespräsident die Kanzlerwahl in "angemessener Frist" einleiten muss. Dabei darf er berücksichtigen, wie kompliziert die Verhandlungen nach der Wahl sind. Irgendwann aber muss der Bundespräsident den Startschuss geben.
Wie läuft die Kanzlerwahl im Bundestag genau ab?
Artikel 63 Grundgesetz sieht für die Kanzlerwahl drei mögliche Phasen vor. In der Geschichte der Bundesrepublik hat bislang immer Phase 1 ausgereicht.
- Phase 1: Der Bundespräsident schlägt dem Bundestag einen Kandidaten oder eine Kandidatin vor. Stimmt mehr als die Hälfte aller Mitglieder des Bundestages für den Vorschlag - das ist die sogenannte Kanzlermehrheit - muss der Bundespräsident den Kandidaten oder die Kandidatin ernennen. Würde die Kanzlermehrheit nicht erreicht, käme es zu Phase 2. Das Heft des Handels ginge dann vom Bundespräsidenten auf den Bundestag über.
- Phase 2: Der Bundestag hätte dann 14 Tage Zeit, mit Kanzlermehrheit einen Kandidaten oder eine Kandidatin zu wählen. Der Vorschlag muss aus dem Bundestag kommen. Innerhalb der 14 Tage wären beliebig viele Wahlgänge möglich.
- Phase 3: Gäbe es nach den 14 Tagen der Phase 2 noch keinen Bundeskanzler oder keine Bundeskanzlerin, müsste "unverzüglich" ein neuer Wahlgang stattfinden. Wenn eine Person in Phase 3 die Kanzlermehrheit bekommt, muss der Bundespräsident sie ernennen. Gewählt ist aber in dieser Phase auch schon, wer die meisten der abgegebenen Stimmen erhält. Die Kanzlermehrheit ist also nicht mehr nötig.
Der Bundespräsident hätte dann zwei Möglichkeiten:
- Entweder er ernennt die gewählte Person zum Bundeskanzler. Auf diesem Weg könnte es zu einer Minderheitsregierung kommen.
- Oder der Bundespräsident löst den Bundestag auf. Innerhalb von 60 Tagen müsste dann neu gewählt werden.
Ist die Abstimmung bei der Kanzlerwahl geheim?
Ja. Sie findet mit verdeckten Stimmzetteln statt. Das regelt die Geschäftsordnung des Bundestages.
Welche Freiheiten hat der Bundespräsident?
Wenn ein Kandidat in Phase 3 mit einfacher Mehrheit gewählt ist, gibt das Grundgesetz dem Bundespräsidenten Spielraum. Er trifft dann eine politische Ermessensentscheidung, ob der Bundestag aufgelöst wird oder sich eine Minderheitsregierung bilden kann. Ein wichtiges Kriterium wären zum Beispiel die Fragen: Wie stark wäre die Unterstützung einer Minderheitsregierung durch die anderen Parteien im Parlament? Wie stabil wäre sie wohl?
Was bedeutet Minderheitsregierung genau?
Der "Normalfall" sieht so aus: Der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin ist von der Mehrheit aller Abgeordneten gewählt, die zuvor eine Koalition geschlossen haben. Er oder sie kann sich daher in der Regel auf eine Mehrheit im Bundestag für konkrete Gesetzesprojekte verlassen.
Bei einer Minderheitsregierung wäre das anders. Für jedes einzelne Gesetzesvorhaben müsste die Regierung um die Unterstützung einzelner Parteien beziehungsweise Fraktionen werben, damit die nötigen Mehrheiten im Bundestag zustande kommen. Eine Minderheitsregierung wäre derzeit in mehreren Varianten denkbar. Zum Beispiel durch die Union allein. Oder etwa mit einer Koalition aus SPD, Grünen, und Linkspartei.