Gerda Friz zeigt auf einer Landkarte die Fluchtroute, über die sie und ihre Familie nach Mecklenburg kamen.

Mecklenburg-Vorpommern Flucht über die Ostsee: Von Ostpreußen übers Haff nach Schwerin

Stand: 15.05.2025 19:30 Uhr

Eingekesselt von der Roten Armee muss die sechsjährige Gerda Friz 1945 mit ihren Eltern aus Ostpreußen über die Ostsee fliehen. Das Erlebte ist auch nach 80 Jahren noch lebendig: das Schreien der Pferde, Krankheit und Hitze.

Von Cornelia Helms

Als Gerda Friz den Schweriner See zum ersten Mal sieht, ist sie sechs Jahre alt. Angekommen ist sie mit ihren Eltern im kleinen Ort Görslow bei Schwerin im Sommer 1945. Zuvor war sie fast ein Jahr lang auf der Flucht. Gerda wächst im östlichen Ostpreußen auf, als einziges Kind von Max und Bertha Jonas - einer Bauernfamilie aus dem Kreis Tilsit an der Memel.

Die Flucht mit Pferd und Wagen

Als sich die Front im Herbst 1944 immer weiter annähert und die Rote Armee in Ostpreußen einmarschiert, packen die Eltern das Nötigste zusammen. Die NS-Gräuelpropaganda wirkt. Was damals den Widerstandswillen der Bevölkerung stärken sollte, schürt jetzt vor allem Furcht und Panik. Mit Pferd und Wagen flieht die Familie mit den hochbetagten Großeltern Richtung Westen. Das geerntete Getreide und ihren Hof lassen sie zurück. Sie fliehen bis Braunsberg und überwintern dort. Als Mitte Januar 1945 Ostpreußen von der Roten Armee eingekesselt ist, bleibt ihnen, wie Hunderttausenden Menschen, nur noch die Flucht über das zugefrorene Haff.

Das Schreien der Pferde noch im Ohr

"Das war die schlimmste Phase, die alle, die dort geflüchtet sind, erleben mussten. Die Wehrmacht hatte gesagt: Fahrzeuge im 50 Meter Abstand. Aber die Angst beherrschte die Leute und die sind dann doch ziemlich nah aufeinandergefahren und demzufolge sind dann auch viele eingebrochen. Und dann erlebten viele dieses Schreien der Pferde. Das bilde ich mir manchmal noch ein, im Ohr zu haben", sagt die heute 86-Jährige.

Hitze und Krankheiten auf der Flucht

Die Familie flieht weiter in den pommerschen Landkreis Stolp. "Dort hat uns der Russe erwischt", erzählt Gerda Friz. Pferd und Wagen werden beschlagnahmt. Hier verbringt die Familie den Frühsommer. Woran sich Gerda Friz vor allem erinnert, ist die Hitze. Dem heißen Sommer und den sich ausbreitenden Krankheiten wie Typhus fallen auch ihre Großeltern zum Opfer.

See und große Küche - Ankunft in Mecklenburg

Nun reisen Gerda und ihre Eltern mit dem Zug weiter, erreichen Görslow. "Meine ersten Erinnerungen sind: der See, das Baden, obwohl ich noch nicht schwimmen konnte, und die Schnitterkaserne mit großer Gemeinschaftsküche, wo sich alle Flüchtlinge endlich etwas Ordentliches kochen konnten", erinnert sich Gerda Friz. Ihre Eltern finden schnell Arbeit: der Vater als Knecht bei einem Bauern, ihre Mutter hilft in der Gärtnerei.

Die Familie erlebt Nächstenliebe und Hilfe

Bald bekommt die Familie ein kleines Stück Land und eine Wohnung zugeteilt - Küche, Wohnzimmer, eine Kammer. Und die Görslower geben, was sie entbehren können. "Mal eine Tasse oder einen Teller, ein anderer einen Stuhl. Sie hatten für die Not großes Verständnis, muss ich mal sagen." Gerda Friz erinnert sich vor allem an ein Geschenk einer Nachbarin, die ihr ihren ersten Wintermantel nähte.

Mit Püppchen und Stulle bedacht

Das Dorf war jetzt voller Kinder. Auch Gerda wird eingeschult. "Die Schule hat eine Weihnachtsfeier ausgerichtet und dort kriegten wir dann zum Beispiel jeder nur eine Leberwurststulle. Und ich erinnere mich an ein kleines Püppchen. Aber immerhin, es wurde jeder bedacht."

Unterschied zwischen Einheimischen und Flüchtling

Gerda Friz ist eine gute Schülerin, darf ab der neunten Klasse aufs Internat nach Schwerin. Nach der zehnten Klasse lernt sie Säuglingsschwester an der medizinischen Fachschule. 1961 begegnet sie bei Tanz und Kuchen im "Café Resi" in Schwerin ihrem zukünftigen Mann. Auch er ist als Flüchtlingskind aus Westpreußen hier gestrandet. "Damals wurden schon Unterschiede gemacht. Das gab es kaum in Görslow, dass ein dort einheimischer Junge ein Flüchtlingsmädchen geheiratet hat", sagt Gerda Friz. Sie und ihr Mann heiraten 1963, bekommen vier Kinder und leben ab den 1970er-Jahren in Steinhagen, wo ihr Mann das Forstamt Bützow leitet und Gerda in einem Kindergarten arbeitet.

"Das ist ein anderer Kulturkreis"

70 Jahre nach ihrer eigenen Flucht - 2015 - kommen wieder Kriegsflüchtlinge nach Deutschland. Für Gerda Friz eine Zeit in der eigene Erinnerungen wieder wach werden. "Das ist schon anders gewesen als bei uns damals. Heute sind das ja zwei verschiedene Kulturkreise. Das ist eine ganz andere Sache. Wir waren Deutsche, da war die deutsche, die beherrschende Sprache. Und heute braucht kein Flüchtling, der nach Deutschland kommt, hungern", erzählt die 86-Jährige.

Ein sicherer Ort als Heimat

Gerda Friz findet, dass das, was viele Kriegsflüchtlinge heute erleiden, dasselbe Schicksal ist, das auch sie damals vor 80 Jahren als Vertriebene erleiden musste. "Das ist alles dasselbe im Grunde genommen." Heimat, meint die Rentnerin, ist für sie ein Ort, wo sie und ihre Familie sich sicher fühlen. "Alles andere sind schöne Erinnerungen. Das ist die Heimat meiner Eltern. Meine Heimat ist heute eben hier in Mecklenburg."

Dieses Thema im Programm:
NDR Fernsehen | Nordmagazin | 15.05.2025 | 19:30 Uhr