
Thüringen Den "Spezis" gehen die Talente aus: Weniger Schüler an MINT-Gymnasien in Thüringen
Die drei Thüringer MINT-Spezialgymnasien kämpfen mit rückgängigen Schülerzahlen. Die Fachrichtungen Mathe, Informatik, Naturwissenschaften und Technik stoßen demnach auf immer weniger Interesse. Am Carl-Zeiss-Gymnasium Jena etwa gibt es 60 Plätze in den MINT-Spezialklassen. Die besuchten vor zehn Jahren noch mindestens 15 Schüler, die von außerhalb kamen. Jetzt sind es fünf oder sechs. Ähnlich ist das Bild in Erfurt und Ilmenau.
- Weniger Bewerbungen von externen Schülern am Carl-Zeiss-Gymnasium in Jena.
- Warum das Interesse an MINT-Spezialklassen sinkt.
- Schulen versprechen individuelle Förderung und großes Netzwerk.
Mathe, Physik, Informatik sind nur für wenige sexy. Arzt, Anwalt, Investmentbanker oder Youtuber etwa klingen da für manchen verheißungsvoller. Physiker oder Mathematiker sind bei Schülern nicht so beliebt. Dabei werden sie in der Wirtschaft dringend gebraucht. Die Talente gibt es - aber sie kommen immer seltener zu uns, so das Urteil der MINT-Schulleitungen in Thüringen.
Die Frage nach den Ursachen habe er sich oft gestellt, könne sie aber nur bedingt beantworten, sagt etwa Kai Rodeck vom Carl-Zeiss-Gymnasium in Jena. Es gelinge, so Rodeck, nicht mehr gut, in den anderen Schulen Ostthüringens für das "Spezi", das Spezial-Gymnasium, zu werben.

Das Carl-Zeiss-Gymnasium in Jena
Wieso sollten wir ein Interesse daran haben, unsere besten Schülerinnen und Schüler abzugeben? Kai Rodeck aus Jena zitiert einen anderen Schulleiter |
Im Regelfall ende das Bemühen schon in den Schulsekretariaten. "Mir ist die Aussage eines Schulleiters aus Ostthüringen in Erinnerung geblieben: 'Wieso sollten wir ein Interesse daran haben, unsere besten Schülerinnen und Schüler abzugeben?'", berichtet Rodeck beispielhaft für die allgemeine Gemengelage.
Wenig Zutrauen, wenig Werbung
Begabte Schüler und Schülerinnen hätten aber oft auch selbst wenig Interesse zu wechseln, da sie an den "normalen" Gymnasien mit ihrem besonderen Talent mit wenig Aufwand beste Noten erzielen können.
Was uns umtreibt, ist das geringe Interesse von Schülerinnen und Schülern außerhalb unserer Schule für die MINT-Spezialklassen. Kai Rodeck | Schulleiter am Carl-Zeiss-Gymnasium Jena
Am Carl-Zeiss-Gymnasium Jena lernen die Schülerinnen und Schüler ab Klasse 9 ausschließlich in MINT-Spezialklassen. Dies unterscheidet die Schule von Erfurt und Ilmenau, da es dort neben den MINT-Spezialklassen auch "gewöhnliche" gymnasiale Klassen bis zur Klassenstufe 12 gibt.
Dies hat zur Folge, dass sich an der Schule in Jena in der Regel alle Schülerinnen und Schüler der Klassenstufe 8 zur Teilnahme an der Eignungsprüfung zum Übertritt in die Spezialklassen in Klassenstufe 9 anmelden. Insofern gibt es dort immer zirka 60 Interessenten, allerdings aus dem eigenen Haus.
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In Jena nehmen fast alle Achtklässler an der Eignungsprüfung für die MINT-Spezialklassen teil. Schulleiter Rodeck würde sich aber auch mehr externe Bewerber wünschen. (Symbolbild)
"Was uns tatsächlich in Analogie zu Erfurt und Ilmenau umtreibt, ist das geringe Interesse von Schülerinnen und Schülern außerhalb unserer Schule für die MINT-Spezialklassen, denn eigentlich war eine Idee der Schulen mit MINT-Spezialklassen, Interessierte und Begabte aus der gesamten Region für diese Schulform zu gewinnen."
"Gab es im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends immer eine relativ stabile Größe von zirka 15 externen Bewerberinnen und Bewerbern, nahm das Interesse seit dem zweiten Jahrzehnt kontinuierlich ab und lag in den letzten Jahren bei mittleren einstelligen Werten", beschreibt Schulleiter Rodeck die aktuelle Lage.
Interesse sinkt seit Jahren
MINT-Spezialklassen sind ein Schulzweig des staatlichen Goethe-Gymnasiums in Ilmenau. Hier werden ab Klassenstufe 9 mathematisch-naturwissenschaftlich besonders interessierte und geeignete Schüler entsprechend ihrer Begabung gefördert. Tendenziell ist die Anzahl der Bewerbungen in den vergangenen Jahren gesunken, so Andreas Ottolinger, Bereichsleiter für mathematisch-naturwissenschaftliche Spezialklassen an der Goetheschule.
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Die Goetheschule in Ilmenau
Zwischen 2002 und 2008 habe es mit 50 bis 60 so viele Bewerber gegeben, dass auch zwei Spezialklassen in Klassenstufe 9 bis 12 eröffnet wurden. Das aber ist vorbei. Ottolinger schiebt den Rückgang ein Stück weit auf den gesunkenen Bekanntheitsgrad des "Spezi" in dessen Einzugsgebiet Süd- und Westthüringen.
Auch habe sich die Leistungsbereitschaft der Jugendlichen geändert und sie hätten zunehmend Sorge, die Woche über im Internat das heimische Umfeld zu verlassen.
Es fällt viel Unterricht auch in den MINT-Fächern aus an den Schulen. Sodass viele potenzielle Bewerber sagen, ich bewerbe mich gar nicht, weil ich denke, ich schaffe das nicht. Johannes Süpke | Leiter der Spezialklassen am Albert-Schweitzer-Gymnasium Erfurt
Im MINT-Spezialschulteil des Albert-Schweitzer-Gymnasiums in Erfurt stellt sich die Situation ähnlich dar. Pro Jahrgang nimmt die Schule bis zu 40 Jugendliche auf. Im vergangenen Jahr gab es weniger Bewerber, sind die Klassen nicht mehr voll geworden. Die Schule nimmt auch Bewerber von außerhalb Thüringens auf.

Das Albert-Schweitzer-Gymnasium in Erfurt
Aktuell besuchen zwei Schüler aus NRW und ein Schüler aus Bayern die Schule im Erfurter Norden. Dass es immer weniger werden, habe viele Ursachen, sagt "Spezi"-Leiter Johannes Süpke. Weil insgesamt viel Unterricht ausfällt, trauen sich auch die Talente nicht mehr zu, die Anforderungen zu schaffen.
Großes internationales Netzwerk
Mit normalem Abitur, sagt Süpke, kann man natürlich auch alles studieren. Aber wer auf dem Spezialgymnasium war, hat einen Vorsprung. Ziel sei es, die Talente früh zu fördern. "Das ist wie beim Erlernen eines Instruments", so Süpke.
Auf dem Stundenplan stehen mehr Mathe, mehr Chemie, mehr Physik und ab Klasse 9 gibt es verpflichtend Informatik. Die Begabung wird individuell gefördert. Der Spezialschulteil am Albert-Schweitzer-Gymnasium in Erfurt wird nächstes Jahr 40. Inzwischen haben das "Spezi" rund 1.000 Absolventen verlassen.
Wenn man sagt, man war im >Spezi< öffnen sich Türen. Milena Wiegand | "Spezi"-Absolventin aus Erfurt
"Es ist eine einzigartige Schule mit einem großen Netzwerk, auf das man im späteren Berufsleben zurückgreifen kann. Wenn man sagt, man war im 'Spezi' öffnen sich Türen. Einige Absolventen sind Top-Manager, haben in London oder New York studiert, sich selbstständig gemacht. Es wäre wahnsinnig traurig, wenn diese Schule aussterben würde", sagt Milena Wiegand.
Sie hat das Erfurter Gymnasium besucht und Chemie studiert, obwohl sie eigentlich erst Architektur oder Germanistik studieren wollte. "Ich hatte am 'Spezi' vier tolle Jahre. Die Lehrer dort haben Lust, einen persönlich zu fördern, man diskutiert auf Augenhöhe."
Aktuell läuft die Bewerbungsfrist. Noch bis 14. Februar können MINT-Talente ihre Unterlagen in den Spezialgymnasien einreichen.
MDR (fno/kir)