
Thüringen "Es nervt einfach": Wenn Thüringer Schulen keine Lehrer finden
Nach sechs Jahren hat die Grundschule in Crossen an der Elster wieder eine Schulleiterin. Aber immer noch ein massives Problem: Es fehlen Lehrer. Nur drei von sechs Stellen sind besetzt. Leidtragende sind die Kinder und die verbliebenen Lehrer.
Es hat schon einmal geklappt. Sechs Jahre lang hatte die Grundschule Elstertal im ostthüringischen Crossen keine Schulleitung. Die Geschicke der gut 100 Schüler in der kleinen Gemeinde bei Eisenberg wurden teilweise von Schulleitern anderer Einrichtungen mitgelenkt. "Die konnten das aber auf Dauer nicht zusätzlich stemmen", sagt Tina Belz.
Belz hat einen Sohn in der dritten Klasse, drückte hier selbst die Schulbank und ist mittlerweile Schulelternsprecherin. Irgendwann hatten sie und andere Eltern die Nase gestrichen voll. Sie gingen an die Presse, die "Ostthüringer Zeitung" berichtete und Katharina Tanz las die Zeitung.

Tina Belz (li.) und Katharina Tanz vor der Schule in Crossen.
Tanz, damals noch Lehrerin an einer anderen Schule, bewarb sich und ist seit Anfang des Jahres, nach sechsjähriger Durststrecke, neue Schulleiterin. "Ich komme hier aus der Gegend und habe das Gefühl, dass diese ländlichen Schulen viele Vorteile haben. Wir kennen uns, wir können auf kurzem Weg viel organisieren. Das ist ein tolles Arbeiten und verdient eine Schulleitung. Ich möchte Schule hier gestalten."
Schule wendet sich an MDR
Was mit der Schulleitung klappte, soll jetzt mit neuen Lehrern noch einmal funktionieren: Elternsprecherin Tina Belz hat dem MDR geschrieben. Denn sie wissen nicht weiter - der Schule fehlen Lehrkräfte. Sie wollen auf das Problem aufmerksam machen und neue Lehrer anziehen.
Wir haben noch drei Lehrer. Drei von sechs. Katharina Tanz |
Im Interview beschreibt Schulleiterin Tanz die Lage so: "Wir haben noch drei Lehrer. Drei von sechs. Die anderen fehlen, sind langzeitkrank. Nur eine ist in der Wiedereingliederung im Moment." Die Folgen: Stunden fallen aus, Hort-Mitarbeiter springen im besten Fall ein und verteilen Aufgaben, Klassen werden zusammengelegt.
Verschärft wird die Lage dadurch, dass das zuständige Schulamt Ostthüringen die Situation offensichtlich ganz anders einschätzt. Denn auf MDR-Anfrage stellt das Amt die Personalsituation in Crossen als "grundsätzlich positiv" dar. Es gebe fünf Lehrerinnen, die im Dienst seien. Auf dem Papier - so erklärt Schulleiterin Tanz - stimme das ja auch. Auf dem Papier sind sie im Dienst. In der Realität fehlt ein Teil von ihnen laut Katharina Tanz aber jeden Tag.

Die Grundschule Elstertal in Crossen an der Elter
Lehrerin: "Es ist extrem anstrengend"
Eine, die das ausbadet ist Romy Draht - eine der Verbliebenen. Sie leitet die zweite Klasse. Draht hat früher in der freien Wirtschaft gearbeitet, vor zwei Jahren begann sie als Seiteneinsteigerin. Normalerweise ist in Thüringen für Seiteneinsteiger eine Vorbereitungsphase geplant. Aus der Not heraus übersprang Romy Draht diese wichtige Einführung und übernahm direkt eine erste Klasse.
31 Kinder sitzen ganz dicht aneinandergedrängt. Romy Draht |
Jetzt, da zwei Klassen auch noch zusammengelegt wurden, ist sie für 31 Kinder zuständig. "Es ist extrem anstrengend. Auch weil wir nur einen kleinen Klassenraum haben. 31 Kinder sitzen ganz dicht aneinandergedrängt - da hat man immer eine hohe Lautstärke."

Die Seiteneinsteigerin Romy Draht
Romy Draht wünscht sich für die Schule zwei oder noch besser drei neue Kollegen, die dauerhaft und ganztags angestellt sind. "Wenn das nicht passiert, würden die bisherigen Lehrer noch mehr arbeiten. Vielleicht auch einen Burnout bekommen, ihren Spaß verlieren oder sogar kündigen. Und wir wollen doch eigentlich alle kleinen Schulen erhalten - gerade auf dem Land."
Romy Draht liebt den Job, wie sie sagt. "Ich lächle jeden Tag und hoffe, dass diese positive Einstellung auf die Kinder überspringt."
Schüler: "Es nervt einfach"
Fritz und Florian strahlen etwas von dieser Einstellung aus. Auch sie mögen ihre Schule. Den Fußballplatz, generell die Sportanlagen und das grüne Klassenzimmer, wo Unterricht im Freien möglich ist. Die Jungs besuchen die dritte Klasse.

Florian (li.) und Fritz aus der dritten Klasse
Florian stört, dass ständig Doppelstunden ausfallen. Etwa bei Sport, Mathe oder Deutsch. "Es wäre viel besser, wenn wir einen richtigen Stundenplan und wieder mehr von den Stunden hätten."
Meine Klassenlehrerin ist lange nicht da gewesen. Helene |
Sein Kumpel Fritz sieht es ähnlich. "Ich finde es doof, dass unser Stundenplan ständig geändert wird. Es nervt einfach. Weil man immer in andere Klassenzimmer gehen muss." Sowohl beim Stundenplan als auch bei einer Klassenleitung wünscht er sich, dass es einfach einmal läuft.
Und von Helene aus der vierten Klasse, die bald aufs Gymnasium wechseln wird, heißt es: "Meine Klassenlehrerin war lange nicht da, das finde ich doof."

Helene wechselt bald aufs Gymnasium. Lücken im Lehrplan kennt sie sehr gut.
Lehrermangel hoch - nicht nur im Ländlichen
Was die Kinder beschreiben, liest sich in Zahlen so: Laut Bildungsministerium gibt es aktuell gut 17.800 Lehrkräfte an staatlichen Schulen. 1.000 neue Lehrkräfte brauche es in Zukunft jährlich. Aktuell sind 700 Stellen nicht besetzt - rund 100 davon an Grundschulen. Im ersten Halbjahr 2025 wurden bereits etwa 590 neue Einstellungen verzeichnet. Der Ausfall von Stunden lag an den staatlichen Schulen im Schuljahr 2024/25 bei 11,2 Prozent. Etwa so hoch wie in den beiden Vorjahren.
Der Thüringer Lehrerverband (TLV) geht von noch mehr unbesetzten Stellen aus, "da Stellen für langzeiterkrankte Kolleginnen und Kollegen nicht ausgeschrieben werden". Ein Beispiel dafür ist die Schule in Crossen: Eigentlich fehlen drei Lehrkräfte - auf dem Karriereportal des Landes hat das Schulamt aber erst einmal nur eine Stelle ausgeschrieben. Dem TLV zufolge wird der Bedarf an Lehrern für das kommende Schuljahr ähnlich hoch sein.

Fritz und Florian hoffen auf neue Lehrer für ihre Schule - laut Landesregierung müssten es jährlich 1.000 sein.
Schreckt AfD-Erfolg ab?
Crossens Schulleiterin Katharina Tanz glaubt, dass es für ländliche Schulen schwieriger ist, Personal zu finden. Junge Leute blieben oft lieber in den Städten.
Ob es angehende Lehrer abschrecken könnte, dass bei der Landtagswahl 2024 fast die Hälfte von Crossens Einwohnern die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestufte AfD gewählt hat? "Ich hoffe nicht", sagt Tanz. "Ich denke, da sollte man uns einfach eine Chance geben und uns kennenlernen." Es gibt sehr viele normale und gebildete Leute in Crossen, betont die Schulleiterin. Und Schulelternsprecherin Tina Belz pflichtet ihr bei: "Dieses Wahlergebnis ist eine Protestwahl gewesen. Wenn zum Beispiel ein ausländischer Lehrer anfangen würde - niemals gäbe das Probleme."

Schön liegt Crossen an der Elster im Tal - aber wer will dort unterrichten?
Laut Thüringer Bildungsministerium war die Lehrer-Suche im Ländlichen "immer schon eine Herausforderung". Mittlerweile gebe es aber auch in Städten Schwierigkeiten.
Gerade, wenn es sich um eine Kombination aus besonders nachgefragten Fächern und Schularten handelt. Das Ministerium beschreibt, dass es beispielsweise auch an einer Erfurter Regelschule schwierig ist, eine Mathe- oder Physiklehrerin zu finden.
Leiterin: "Man darf ländlichen Raum nicht vergessen"
Crossens Schulleiterin Katharina Tanz ist glücklich, dass Elternsprecherin Tina Belz und andere sich so engagieren. Frühjahrsputz, die Organisation von Wandertagen oder eine Ostereier-Suche für die Kinder - überall sind die Eltern eingebunden, ohne sie liefe hier wenig.
Wir brauchen schnelle und kreative Lösungen. Katharina Tanz |
Doch Tanz verlangt nach Hilfe: "Wir brauchen schnelle und kreative Lösungen. Man darf den ländlichen Raum nicht vergessen." Um Orte wie Crossen attraktiver zu machen, könnte beispielsweise ein mietfreies Jahr für neue Lehrer wirken. "Denn wenn wir hier auf Dauer nur den Notbetrieb aufrechterhalten können, haben wir hier wirklich eine strukturelle Bildungsbenachteiligung für viele Schüler."

Katharina Tanz während eines Projekttages in der Turnhalle der Grundschule
Schulelternsprecherin Tina Belz macht außerdem auf die bauliche Substanz der Schule aufmerksam. Vieles sehe noch so aus wie damals, als sie 1994 eingeschult wurde. "Es ist doch in den vielen Jahren wenig passiert." Der Boden müsse erneuert werden, ein Sonnenschutz für die sich aufheizenden Klassenzimmer müsse her oder der Schallschutz verbessert werden.
Landkreis: "Würden gerne schneller vorankommen"
Beim zuständigen Landratsamt des Saale-Holzland-Kreises weiß man um die Mängel. Man sei im Austausch und unterstütze auch die Initiativen der Eltern. Die Themen Sonnenschutz und Fußböden sollen schrittweise umgesetzt werden. Für größere Sanierungsschritte in dem denkmalgeschützten Gebäude wurden erste Gutachten beauftragt.
Die müssen aber erst "im Rahmen der Haushaltsplanung 2026 und Folgejahre" eingeordnet werden. Das ist Behördendeutsch und heißt: Keine Ahnung, wann wir dafür das Geld haben.
Im Saale-Holzland-Kreis, so schreibt es das Amt, gibt es einen Investitionsstau von 150 Millionen Euro. "Gern würden wir schneller vorankommen." Man hoffe auf Hilfe von Bund und Land.
Das versucht die Landesregierung
Die Thüringer Landesregierung hat von Beginn an den Lehrermangel als Schwerpunkt genannt. Ministerpräsident Mario Voigt und Bildungsminister Christian Tischner (beide CDU) hatten erst im Januar einen freundlichen Brief an 600 angehende Lehrer geschickt - um diese in Thüringen zu halten.
Auf Nachfrage, was der Freistaat denn sonst konkret noch machen könne, verweist das Bildungsministerium auf eine stärkere Vernetzung der Schulen. 2024 habe man etwa eine Bustour von Studierenden aus Mittelthüringen nach Gera organisiert, um die jungen Anwärter mit Ostthüringer Schulen in Kontakt zu bringen.
Gutes Viertel ist Seiteneinsteiger
Auch ohne Seiteneinsteiger lässt sich der Lehrermangel nicht mehr bekämpfen. Bei den Neueinstellungen machen sie laut Bildungsministerium mittlerweile gut ein Viertel aus. Im Schuljahr 2020/21 lag der Anteil noch bei etwa 19,5 Prozent und stieg kontinuierlich auf 27,9 Prozent im Schuljahr 2023/24 an.
Ab dem kommenden Schuljahr sollen alle Seiteneinsteiger einen dreimonatigen Vorkurs absolvieren. Zusätzlich wurden jetzt über das Karriereportal des Landes 50 Stellen ausgeschrieben, die sich gezielt an Seiteneinsteiger richten. Einstiege in die Grundschule - gar ohne Vorbereitung wie im Fall der Crossener Lehrerin Romy Draht - sind laut Ministerium "nicht die Regel" und sollen zukünftig vermieden werden.
Im Berufsalltag wird diese Personengruppe häufig 'verheizt'. Thüringer Lehrerverband |
Der Lehrerverband verweist jedoch darauf, dass Seiteneinsteiger im neuen Berufsalltag oft "verheizt" werden. Ihnen wird demnach zu viel zugemutet. Aufgrund des Mangels arbeiten Seiteneinsteiger "in der Praxis häufig auch fachfremd". Der TLV mahnt deshalb: "Eine engmaschige Betreuung von Anfang an muss dringend sichergestellt werden."
Hinweis: In einem Wegweiser listet das Bildungsministerium mittlerweile genau auf, welche Voraussetzungen Interessierte als Seiteneinsteiger mitbringen müssen.
Hilft mehr Geld?
Generell, so das Bildungsministerium, kann auch ein höheres Gehalt helfen, um Lehrer in Thüringen zu finden. Das Land hat vor einigen Jahren eine Sonderzulage eingeführt. Neue Lehrer erhalten die ersten fünf Jahre zusätzlich zehn Prozent ihrer Besoldung. Allerdings bekommt die nur, wer Mangelfächer unterrichtet, an Schulen mit besonders großem Lehrermangel oder in Regionen geht, wo der Bedarf an Lehrern besonders groß ist.
Grundschulen gelten jedoch nicht als sogenannte "Bedarfsschulart". Und das, obwohl die Landesregierung trotz des demografischen Wandels und sinkender Geburtszahlen in Zukunft eine Entspannung an den Grundschulen für sehr wichtig hält: "Mehr Personal ist erst einmal eine Chance für mehr Qualität", heißt es vom Ministerium.

Helfen Zuschläge, damit junge Lehrerinnen und Lehrer auch ins Ländliche ziehen?
Aktuell prüft das Ministerium noch, ob die finanzielle Zulage auch schon Lehrkräfte in der zweiten Phase ihrer Ausbildung bekommen können. Zeitpunkt der Umsetzung aber: unklar.
Kritik kommt vom Lehrerverband. Dort findet man die Sonderzuschläge nicht erfolgsversprechend. "Kolleginnen und Kollegen wünschen sich eine Schule, an der man gute Arbeitsbedingungen vorfindet - beispielsweise eine aktuelle digitale Infrastruktur, gute personelle Ausstattung, attraktive Räumlichkeiten." Viele offene Lehrerstellen wirkten deshalb unattraktiv, "da die Mehrarbeit an dieser Schule vorprogrammiert ist".
Welche Ideen haben die Fraktionen im Landtag?
Fragt man die Fraktionen im Thüringer Landtag nach konkreten Ideen, nimmt beispielsweise das BSW die Schulämter stärker in die Pflicht: Sie könnten helfen, geeigneten Wohnraum oder Kita-Plätze für potenzielle Lehrer zu finden. Die CDU-Fraktion möchte unter anderem, dass die Schulämter entbürokratisiert werden, "um Bedarfe besser zu steuern". Die AfD schlägt eine neue Pädagogische Hochschule vor und will zudem ältere Lehrer durch Anreize länger im Dienst halten.
Die Linke regt an, über Filialschulen nachzudenken - bei denen sich mehrere Schulen zusammenschließen und eine Schulleitung die Geschicke des Verbunds von einem Hauptstandort führt. Die SPD fordert wie das Bildungsministerium die Ausweitung der Zulagen auf Lehreranwärter in der Ausbildung. Außerdem soll es mehr Assistenzen an den Schulen geben, um Lehrer bei Verwaltungsaufgaben zu entlasten.
Hoffnungsschimmer für das neue Jahr
Die Grundschule Crossen an der Elster hofft, dass irgendetwas von den politischen Ideen wirkt. "Bis dahin verwalten wir den Mangel", sagt Schulleiterin Katharina Tanz und wirbt für ihre Schule: "Bei uns kann man sich im Lehrerjob verwirklichen. Wir haben einen tollen Außenbereich, ein grünes Klassenzimmer. Man ist schnell draußen in der Natur, im Wald."
Und dann schickt das Ostthüringer Schulamt doch noch eine unerwartete Nachricht: "Die ausgeschriebene Stelle kann voraussichtlich mit einer vollständig als Grundschullehrkraft ausgebildeten Lehrerin ab 1. August besetzt werden." Im Schulamt geht man zumindest davon aus, dass sie die Stelle annimmt.
MDR (dst)