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Thüringen "Jeden Tag spüre ich die Abneigung": Thüringer Migranten über die aufgeheizte Migrationspolitik
Migration ist zum Wahlkampfthema Nummer eins der vergangenen Wochen hochgekocht. Vor allem nach den Anschlägen in Aschaffenburg und München. Migration ist als Begriff vage und meint irgendwie alle 21,2 Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland auf einmal. Wie fühlt es sich an, als Migrantin oder Migrant in diesen Zeiten zu leben? Wir haben fünf Menschen mit Migrationsgeschichte aus Thüringen befragt.
Hiba Alabed aus Syrien

Hiba Alabed
Kurz nach 8 Uhr am Dienstagmorgen. Hiba Abaled hat noch ein bisschen Zeit, bis sie in die erste Behandlung muss. Vor neun Jahren flüchtete ihre Familie aus dem syrischen Damaskus. Hiba Alabed war damals noch eine Jugendliche - vor kurzem hat die ausgebildete Therapeutin mit ihrer Familie die "Physiopraxis Ilvers" in Erfurt eröffnet. Wegen den vollen Arbeitstagen fehlt ihr die Energie, regelmäßig die Nachrichten zu verfolgen. Der Anschlag in München hat sie getroffen:
Verband: Migranten keine homogene Gruppe
Während das Thema Migration den Wahlkampf dominierte, können nur relativ wenige Migranten selbst in Thüringen mitwählen. Wahlberechtigte mit Einwanderungsgeschichte machen nur etwa zwei Prozent aller Wahlberechtigten in Thüringen aus - so schätzt das Landesstatistikamt.
Elisa Calzolari ist Geschäftsführerin von Migranetz Thüringen. Migranetz vernetzt und vertritt die vielen Thüringer Migrantenorganisationen. Calzolari stört, dass Migration immer öfter "als Mutter aller Probleme" dargestellt wird und Migranten dadurch marginalisiert werden.
Was dabei auf den ersten Blick vielleicht überrascht: 21 Prozent der Menschen mit Migrationsgeschichte halten die AfD für wählbar. Das zeigt eine aktuelle Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Dass Forderungen nach mehr Abschiebungen oder strengeren Regeln für Asylbewerber auch bei Migranten verfangen, wundert Elisa Calzolari von Migranetz aber nicht. "Es gibt nicht 'die' Migranten, sondern eine Vielfalt wie in der Mehrheitsgesellschaft auch.
Paul Ilten, AfD-Politiker mit US-Wurzeln
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Paul Ilten
Irgendwann hat Paul Ilten seiner Mutter erzählt, dass er "zur AfD tendiert". "Sie hat mich dann daran erinnert, dass ich ja selbst Migrationsgeschichte habe." Gehindert hat ihn das nicht. Ilten ist Kaufmann und stellvertretender Vorsitzender der AfD im Kreistag Weimarer Land. Auch im Verein "Migranten für Deutschland" ist er mittlerweile. Dass er eine migrantische Geschichte mitbringt, sieht man Ilten nicht an. Es war für seine politische Karriere in der AfD auch bislang nie ein Problem, sagt er:
Nesreen Schmidt, Geraer Dolmetscherin mit sudanesischen Wurzeln
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Nesreen Schmidt
Auch Nesreen Schmidt lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Sie hat als Migrantin ganz andere Erfahrung gemacht als Paul Ilten. Als schwarze Frau in Gera. Schmidt hat zwei Töchter, acht und 17 Jahre alt. Die Eltern kommen aus dem Sudan, lebten aber mit ihren Kindern lange in Dubai. Nachdem Schmidt beim Studium in Dubai einen Thüringer kennengelernt und sich verliebt hatte, zogen beide zunächst in dessen Dorf - 400 Einwohner, in der Nähe von Zeulenroda im Landkreis Greiz. Nesreen Schmidt arbeitet bei Migranetz und ist seit 2015 selbstständige Dolmetscherin. Der Hass auf Ausländer, sagt sie, habe sich seitdem verstärkt:
Aleksei Artamonov, Ukraine-Aktivist aus Russland
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Aleksei Artamonov
Früher war Aleksei Artamonov Hundeführer bei der Polizei - in Russland. Jetzt empfängt er Hotelgäste in Apolda und leitet einen ukrainischen Verein: "Pidtrymka der Ukraine" - Unterstützung der Ukraine. Artamonovs Frau erhielt als Spätaussiedlerin einen deutschen Aufenthaltstitel, vor gut zehn Jahren zog die Familie nach Thüringen. Er hat seit einem Jahr einen deutschen Pass. Eine halbe Minute hörte er Putin nach dessen Überfall auf die Ukraine zu, dann wechselte er innerlich die Seite. Sollte er einmal nach Russland reisen, so sagt Artamonov im Gespräch, würde er sofort nach Sibirien geschickt. Seine Zeit nutzt er deshalb lieber, um ukrainischen Geflüchteten zu helfen.
Eyup Kaya, Lehrer aus der Türkei
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Eyup Kaya
Eyup Kaya lebt seit sieben Jahren in Thüringen. Er ist Lehrer, musste aber aus der Türkei mit seiner Familie fliehen. Als Mitglieder der Hizmet-Bewegung (auch Gülen-Bewegung genannt) waren sie von Präsident Recep Tayyip Erdogan als Terroristen eingestuft worden. Kayas Frau arbeitet als Pädagogin an einer Schule. Eyup Kaya selbst macht gerade eine dreijährige Zusatzausbildung, um endlich wieder als Lehrer arbeiten zu dürfen.
MDR (dst)