
Thüringen Quacksalberei oder echte Wirkung? Wie Blutegel Schmerzen lindern können
Seit knapp 3.000 Jahren werden Egel in der Medizin verwendet. Wir haben einer Heilpraktikerin in Arnstadt zugeschaut, die mit den Tieren die Zehen-Beschwerden eines Rentners zu lindern versucht.
Heilpraktikerin Anja Porombka trägt ein Glas in ihren Händen. Im Gefäß befinden sich sechs Blutegel. "Ich setze sie immer in Mineralwasser", sagt Porombka. "Darin fühlen sie sich wohler als im Leitungswasser."
Ihr heutiger Patient ist Horst Rothhardt. Der 79-Jährige leidet an einem kalten Gefühl in den Zehen. Eine ungewöhnliche Beschwerde. Er wartet seit 20 Minuten in der Praxis in der Arnstädter Altstadt. Nun hat er auf dem schwarzen Stuhl im Behandlungszimmer Platz genommen und betrachtet das Dutzend Klangschalen, das im Raum verteilt steht.

Heilpraktikerin Anja Porombka und Patient Horst Rothhardt.
Diese Instrumente braucht Heilpraktikerin Porombka heute aber nicht. Ihr Blick richtet sich viel mehr auf Rothhardts Knöchel. Der Rentner hat schon beide Hosenbeine hochgekrempelt. Heute lässt er sich mit Blutegeln therapieren - zum ersten Mal.
Schulmedizin und "alternative Medizin" konkurrieren
Schulmedizin, also die Methoden, die Mediziner an Universitäten erlernen, und die sogenannte Alternativmedizin existieren in Deutschland nebeneinander. Vor allem während der Corona-Pandemie wurden die Gräben zwischen beiden Disziplinen größer.
Der Skepsis gegenüber dem Impfen folgte nach Corona eine Skepsis gegenüber der gesamten Medizin. Ulrich Wedding, Vizepräsident der Landesärztekammer Thüringen |
"Der Skepsis gegenüber dem Impfen folgte nach Corona eine Skepsis gegenüber der gesamten Medizin", sagt Professor Ulrich Wedding, der Vizepräsident der Landesärztekammer Thüringen. Er möchte in der Medizin nicht die harte Linie zwischen Schulmedizin und "alternativer Medizin/Naturheilkunde" ziehen. Für ihn ist wichtig, dass die Methoden wirken und durch Studien belegt sind.
"Viele Dinge, die wir Ärzte benutzen, kommen ja auch aus der Natur", sagt Wedding. Der Konflikt in der Medizin dauert aber schon jahrzehntelang an und spaltet vor allem auch die Patienten in zwei Lager. Dann heißt es unter Umständen verknappt: Wissenschaft gegen Tradition und Chemie gegen Natur. Die Blutegeltherapie wenden aber Vertreter beider Lager an und berufen sich dabei auf ein Verfahren, das schon vor mehr 3.000 Jahren angewendet wurde.
Manchmal muss man sie ein bisschen anstupsen. Anja Porombka |
Porombka fischt im Glas nach den Blutegeln. Der letzte Egel im Glas hat sich hinter einem Stein versteckt. Die Heilpraktikerin greift das Tier mit Daumen und Mittelfinger und zieht es aus dem Glas hinaus. Geschafft! Insgesamt sechs Blutegel kriechen jetzt auf Rothhardts Knöcheln herum.
Sie winden sich auf der Suche nach einer passenden Stelle, um zuzubeißen. "Manchmal muss man sie ein bisschen anstupsen", sagt Porombka. "Das ist ihr Motivationsschub." Heute lassen sich die Tiere nicht lange bitten. Sechs Tiere, sechs Bisse. Das Blut läuft. "Es zwickt schon ein bisschen", sagt Rothhardt. "Das sind wie kleine Nadelstiche." Er lehnt sich in den Stuhl zurück und faltet die Hände zusammen. Jetzt müssen Heilpraktikerin und Patient warten.

Insgesamt sechs Blutegel sitzen auf den Knöcheln von Horst Rothhardt.
Die Blutegeltherapie hat eine lange Geschichte
Die ersten Überlieferungen über eine Blutegeltherapie stammen aus Mesopotamien. Genauere Beschreibungen über die Therapie wurden 100 bis 600 vor Christus in Indien gefunden. Nach Europa kam die Therapieform in der Antike und war über das Mittelalter hinweg bis ins 19. Jahrhundert ein unverzichtbares Element der Schulmedizin, wurde aber auch von Naturheilkundlern verwendet.
Es zwickt schon ein bisschen. Horst Rothhardt |
Die Blutegel wurden am Körper angelegt und sollten Gelenkerkrankungen oder Venenerkrankungen wie Krampfadern und Formen von Thrombose heilen. Zusätzlich wurden pulverisierte Blutegel zu Salben verarbeitet und bei Haarausfall und Hautkrankheiten verwendet.
Heute werden die Blutegel vor allem bei Rückenschmerzen, Schulter-Nacken-Beschwerden oder Arthrose verwendet. Seltener wird die Blutegeltherapie auch bei Tinnitus oder auch bei Depressionen eingesetzt.
Die Medizin kommt aus dem Blutegelspeichel
Eine Blutegeltherapie dauert je nach Patient ein bis zwei Stunden. Der Heilpraktiker oder der Arzt setzt meistens sechs Tiere auf dem Körper an. Oft werden die Egel auf dem Rücken platziert, manchmal aber auch direkt auf der schmerzenden Stelle.
Auf der Haut suchen sich die Tiere selbstständig eine geeignete Bissstelle und beißen mit ihren 80 kleinen Zähnen zu. Die Tiere saugen während der Behandlung bis zu 60 Milliliter Blut ab. Wenn sie satt sind, fallen sie einfach vom Körper ab und hinterlassen eine Wunde. Nach der Behandlung blutet die betroffene Stelle bis zu 24 Stunden nach.
Besonders wichtig ist der Stoff Hirudin im Blutegelspeichel Ulrich Wedding |
Die Therapie funktioniert nach den Prinzipien Ausleitung und Einführung. Durch das Absaugen des Blutes werden dem Körper auch Gifte, Säuren und Schadstoffe entzogen, die entzündungstreibend wirken. Zusätzlich geben die Egel beim Blutsaugen Speichelsekret in die Blutbahn ab.
"Besonders wichtig ist der Stoff Hirudin im Blutegelspeichel", sagt Professor Wedding. Das Sekret beinhaltet darüber hinaus über 50 Wirkstoffe, wirkt entzündungshemmend, schmerzstillend und entgiftend und wird auch im schulmedizinischen Kontext, zum Beispiel beim Behandeln von Thrombose verwendet.
Wie die Blutegeltherapie aber ganz konkret funktioniert, hat die Wissenschaft bisher noch nicht eindeutig belegt. Daten aus klinischen Studien fehlten laut Deutschem Ärzteblatt bislang.

Haben sich die Blutegel eine Stelle gesucht, heißt warten es für Horst Rothhardt.
Medizinische Blutegel werden auf Farmen gezüchtet
Ihre Blutegel kauft Porombka bei einer speziellen Farm in Gießen. Dort werden die Tiere gezüchtet und aufgezogen. In die Heilpraktikerpraxis nach Arnstadt kamen sie per Post in einem feuchten Leinensäckchen. Die lebendige Fracht bevorzugt kühle Temperaturen. 15 Grad sind für die Blutsauger ideal.
Die Tiere kosten je nach Größe zwischen zehn und 15 Euro pro Stück. Die Materialkosten und die Kosten für die Behandlung summieren sich auf einen Gesamtpreis. Bei Porombka und in der Gebührenordnung für Heilpraktiker kostet eine Therapie dann je nach Aufwand unterschiedlich viel Geld.
Horst Rothhardt kostet die Therapie mit sechs Blutegeln heute 185 Euro. Das Geld muss er komplett selbst bezahlen. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten für die Blutegeltherapie im Regelfall nicht.

Die Blutegel kommen aus Gießen (Hessen) nach Arnstadt.
Eine Blutegeltherapie kann Schmerzen lindern
Die Blutegel sind stark gewachsen und sitzen fest auf Rothhardts Knöchel. Sie saugen seit 35 Minuten. Rothhardt schaut sich die Arbeit der Tiere an und zappelt regelmäßig mit seinen Zehen. "Ich habe das Gefühl, die Zehen sind nicht mehr kalt", sagt Rothhardt und grinst. Auch Frau Merten ist Patientin bei Porombka.
Im ganzen Körper ist etwas passiert Frau Merten, Patientin |
Sie hatte Schmerzen in den Beinen und hat darum die Blutegeltherapie ausprobiert. "Mir hat jemand gesagt, Blutegel helfen fast gegen alles", sagt Merten. Ihre Beinschmerzen wurden durch die Therapie zwar nicht besser, aber ihr Körpergefühl hat sich verändert. "Im ganzen Körper ist etwas passiert", sagt die Rentnerin. "Ich bin beweglicher geworden."
Je nach Beschwerde spüren die Patienten nach unterschiedlich langer Zeit eine Wirkung. Bei Tinnitus und Arthrose spürt der Betroffene laut Porombka schnell eine Verbesserung und bei Krampfadern könne es schon mal vier bis sechs Wochen dauern, bevor die Therapie wirke.
Heute haben sie echt gut gearbeitet. Anja Porombka |
Mittlerweile sind die Blutegel von Rothhardts Knöchel abgefallen und Blut fließt aus der Wunde. "Die sehen aus wie kleine Mercedessterne", sagt Porombka und zeigt auf die Bissstelle. Sie greift die vollgesaugten Blutegel und legt sie in eine Schale. "Ich bin sehr begeistert von der Wirkung der Tiere", sagt sie.
"Heute haben sie echt gut gearbeitet." Porombka und Rothhardt schauen sich an und lachen. Ob die Blutegeltherapie das Problem des Rentners auch langfristig lösen kann, wird sich in der Zukunft zeigen. Eine weitere Therapie hat der 79-Jährige erst mal nicht geplant.
Auch die Blutegel werden kein zweites Mal bei einem Patienten angesetzt, sondern nach der Therapie mit Spiritus getötet. "Das ist Vorschrift", sagt Porombka. Manchmal schickt die Heilpraktikerin die Tiere aber auch zurück an die Farm in Gießen. Dort können die Tiere in einem Altersbecken für Blutegel weiterleben.
MDR (lth/jn)