
Song-Upcycling TikTok spült Oldies in die Charts
Weil die "Generation Z" alte Songs bei TikTok entdeckt, wird weniger neue Musik gehört. Bands wie The Police und Alphaville landen wieder in den Charts. Die Musikindustrie und TikTok befeuern den Trend strategisch.
Nie wurde so viel ältere Musik gehört wie heute. Der Anteil von älteren Songs und Alben bei der Musiknutzung liegt in den USA bereits bei über 70 Prozent - und er steigt jedes Jahr. Auch in Deutschland tauchen im Jahr 2025 kuriose Titel in den Charts auf: Wo früher fast ausschließlich Neuerscheinungen gelistet waren, finden sich nun "Forever Young" von Alphaville, "Don’t Stop Believin'" von Journey und "Every Breath You Take" von The Police. Wie ist das zu erklären?
Streaming-Dienste wie Spotify und Apple Music machen Musik aus allen Epochen verfügbar, und die Plays werden für die Charts gezählt. Entdeckt aber werden gerade alte Songs oft auf TikTok - der App, auf der die Nutzer kurze Videos posten und diese oft mit Musik unterlegen. "Für die Branche war es eine große Überraschung, dass die App das Potenzial hat, alte bis uralte Lieder wieder erfolgreich zu machen”, sagt TikTok-Musikchefin Charlotte Stahl.
Viele Hits gehen vorher auf TikTok viral
Eine eigene Analyse des Unternehmens soll gezeigt haben, dass jeder vierte Hit in den deutschen Single-Charts zuerst auf TikTok erfolgreich war. Das gilt für neue Songs von jungen Stars wie Ski Aggu und Ayliva, aber ebenso für jahrzehntealte Titel. "Forever Young" von Alphaville stieg im August 2024 überraschend wieder in die Top 100 ein - zum ersten Mal seit dem Charterfolg 1984. Auslöser könnte ein TikTok-Video von Prince Harry gewesen sein.
Inzwischen gibt es mit dem Song über eine Million Videos, oft nostalgische Clips mit Familienerinnerungen. Die Streaming-Zahlen auf anderen Plattformen stiegen in der Folge ebenfalls überdurchschnittlich. Und die zählen für die Charts.
Künstler werden oft selbst überrascht
"Alle sind verrückt geworden. Was ist da los?": In einem emotionalen Video meldete sich Anfang Februar die englische Indie-Sängerin Imogen Heap zu Wort. Sie hatte sich bei der Plattform angemeldet, nachdem dort mehrere Songs von ihr - alle über 20 Jahre alt, keiner davon einst ein nennenswerter Hit - plötzlich wiederentdeckt worden waren. "Leben wir in einem multidimensionalen Zeituniversum, wo alles mit Verzögerung passiert?", fragt sie. "Ich habe übrigens auch einen neuen Song - aber den werdet ihr 20 Jahre lang nicht mögen. Das ist schon okay."
Das bekannteste Beispiel für diesen Effekt war "Dreams" von Fleetwood Mac. 2020 ging ein Video viral, das den Song von 1977 vor allem in der "Generation Z" - also bei denjenigen, die ungefähr zwischen 1995 und 2020 geboren wurden - nochmal populär machte. Und das zunächst ohne Wissen der Band. Ein amerikanischer Lagerarbeiter filmte sich auf dem Skateboard. Während er eine Autobahnausfahrt in Idaho hinunterrollte, nahm er einen Schluck aus einem Kanister mit Cranberry-Saft und bewegte dann die Lippen zu einigen Textzeilen von "Dreams": "It's only right that you should play the way you feel it."
Das Video wurde millionenfach geschaut und Mick Fleetwood stellte in einem eigenen Video die Szene nach. Der Song stieg 2020 in zahlreichen Ländern der Welt wieder in die Top 100 ein.

Indie-Sängerin Imogen Heap erlebte Anfang des Jahres ein Revival ihrer alten Songs.
Wie demokratisch ist die "Demokratisierung"?
TikTok spricht gerne von einer "Demokratisierung der Musikbranche": Nicht das Unternehmen, sondern die Community entscheide, welcher Song erfolgreich wird. "Wir selber können das gar nicht vorhersehen oder bestimmen", sagt Charlotte Stahl. "Jeder Song hat erstmal dieselbe Chance, erfolgreich zu sein."
Längst allerdings wird hier und da nachgeholfen. Die Plattenfirmen lassen sich dabei nicht gern in die Karten schauen: Auf Anfrage bei einem Majorlabel heißt es, dass man "leider keine Auskunft über unsere Vorgehensweise geben" dürfe, eine andere Plattenfirma meldete sich zu dem Thema nach der Suche nach geeigneten Gesprächspartnern nicht mehr zurück. Aber: Katalog-Songs - also altes Repertoire - neu auszuwerten, sei "mittlerweile eine sehr beliebte Strategie von verschiedensten Labels", sagt Charlotte Stahl. Das führe zu gezielten Kampagnen.
Geschickt orchestrierte Kampagnen
Und bei denen sollen - zum Beispiel mit Hilfe von Influencern oder Tanzwettbewerben - alte Songs neu ins Gespräch gebracht werden. Als Werbung gekennzeichnet wird das nicht immer. Weshalb nicht alle Fälle von viralen Videos mit einem demokratischen Prozess zu tun haben.
Das glaubt auch Nicolas Ruth von der Hochschule für Musik und Theater in München. Der Professor für Digitale Kommunikation in der Musikindustrie analysiert auch Prozesse auf TikTok. Seiner Meinung nach definieren sich Unternehmen wie TikTok als Musik-Entdeckungsplattform. Insofern wäre alles, was als Werbung oder strategisch wahrgenommen wird, nicht in deren Interesse. Aber man müsse sich nichts vormachen, so Ruth: "Bei vielen wirklich gut laufenden Kampagnen stehen Menschen dahinter, die daran arbeiten und das befeuern, damit es so gut läuft."