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Verhaftungswelle in der Türkei Wie Erdogan gegen die Opposition vorgeht
Künstler und Journalisten werden verhaftet, Oppositionspolitikern drohen lange Haftstrafen: Die türkische Regierung geht verstärkt gegen ihre Kritiker vor. Warum zieht Präsident Erdogan gerade jetzt die Zügel an?
In der Türkei gibt es wieder eine Welle von Repressionen. Nahezu täglich werden Menschen verhaftet. Es trifft Künstler, Journalisten, Geschäftsleute und vor allem Politiker.
Der Druck der Justiz nimmt zu. Kritik an der Erdogan-Regierung wird oft nicht geduldet. Die Folge sind drastische Haftstrafen. Dabei wird immer wieder ein Vorwurf erhoben: Terror-Unterstützung.
Die unbequeme Managerin
Mitte Januar wurde Ayse Barim festgenommen. Die Produzentin und Künstleragentin ist in der boomenden türkischen Filmbranche ein bekanntes Gesicht. Seit vielen Jahren ist sie ziemlich erfolgreich. Barim hat viele bekannte Schauspieler unter Vertrag und gilt auch international als gut vernetzt. Der Vorwurf bei der Inhaftierung der Managerin: versuchter Umsturz.
Die Begründung: Barim hat an den regierungsfeindlichen Gezi-Protesten von 2013 teilgenommen. Das haben zehntausend andere Türken aber auch. Sie soll außerdem in Kontakt mit Personen gestanden haben, die später wegen der Proteste angeklagt wurden, etwa mit Osman Kavala.
Lebenslange Haftstrafe für Unterstützung von Protesten
Der Kulturmäzen sitzt seit 2019 im Gefängnis, ist zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Auch er soll die Gezi-Proteste unterstützt haben. Die Bundesregierung und auch der Europarat haben wiederholt die Freilassung Kavalas gefordert und die Prozessführung kritisiert.
Auch Barim weist die Anschuldigungen zurück - allein es nützt nichts. Bis heute sitzt sie im Gefängnis. Vermutet wird, dass ihr Erfolg mit internationalen Fernsehserien der Regierung ein Dorn im Auge war.
Als der Richter Fatih Kaplan sich für ihre Freilassung einsetzte, wurde auch gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. In der Türkei herrscht immer mehr ein Klima der Angst und Verunsicherung. Offenbar kann es jeden treffen.

Unterstützer halten ein Foto von Abdullah Zeydan: Der prokurdische Bürgermeister von Van in der Osttürkei wurde abgesetzt und muss drei Jahre und neun Monate ins Gefängnis.
Absetzung von kurdisch-stämmigen Bürgermeistern
Mitte Februar setzte die türkische Regierung wieder einen prokurdischen Bürgermeister ab - und zwar Abdullah Zeydan, den Bürgermeister der Stadt Van im Osten des Landes. Begründung: Mitgliedschaft in einer Terror-Organisation. Die Strafe: Drei Jahre und neun Monate Haft.
Zeydan gehört der kurdischen Partei DEM an. Diese Partei steht seit den Kommunalwahlen im März 2024 vermehrt unter Druck. Immer wieder werden prokurdische Bürgermeister - nicht nur der DEM-Partei - wegen Terrorvorwürfen ihres Amtes enthoben.
Präsident Recep Tayyip Erdogan wirft der DEM vor, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei und vielen Staaten Europas als Terrororganisation gilt. Die DEM weist dies zurück. Nach der Verhaftung Zeydans kam es zu Straßenprotesten, die Sicherheitskräfte gingen massiv dagegen vor, über 100 Demonstranten wurden verhaftet.
Zeitpunkt ungewöhnlich
Der Zeitpunkt der Verhaftungswelle ist erstaunlich. Denn eigentlich stehen gerade die Zeichen auf Versöhnung. Bald wird mit einer Erklärung des PKK-Gründers gerechnet. Abdullah Öcalan sitzt seit 1999 in Haft auf der Insel Imrali im Marmara-Meer bei Istanbul.
Öcalan könnte zu einer Waffenruhe, einer Aussöhnung aufrufen - damit rechnen Beobachter. Im Konflikt zwischen der türkischen Regierung und der PKK sind in den vergangenen Jahrzehnten Zehntausende Menschen getötet worden. Nun könnte es einen Neustart, einen Kurs in einen Frieden geben.
Den türkischen Präsidenten könnte das aber in die Zwickmühle bringen. Einerseits könnte ihm das die Unterstützung der kurdisch-stämmigen Wähler bringen.
Auf der anderen Seite besteht das Risiko, dass die Militärführung der PKK im Irak einem solchen Aufruf Öcalans nicht folgt. Und dass auch türkisch-ultranationalistische Kräfte gegen eine mögliche Vereinbarung mit dem bei ihnen verhassten Öcalan Stimmung machen.
Deshalb wurde einer der schärfsten Gegner der Verhandlungen, der Vorsitzende der rechtradikalen Partei Safer Parti, Ümit Özdag, im Januar verhaftet. Er wird beschuldigt, den Präsidenten beleidigt zu haben.
In dieser Gemengelage muss man die jüngsten Verhaftungen sehen. Die Erdogan-Regierung könnte mit den Festnahmen Verhandlungsmasse aufbauen und gleichzeitig den Ultranationalisten den Wind aus den Segeln nehmen.
Druck auf die größte Oppositionspartei
Verstärkt gerät auch die größte Oppositionspartei CHP ins Visier der Justizbehörden. Die CHP hat bei den Kommunalwahlen 2024 Erdogans AKP eine empfindliche Niederlage beigefügt, regiert in fast der Hälfte der Großstädte, darunter auch in den Metropolen Istanbul, Izmir und Ankara.
Und ein CHP-Politiker ist der AKP ein besonderer Dorn im Auge: Der gerade wiedergewählte Oberbürgermeister Istanbuls, Ekrem Imamoglu. Immer wieder hat der populäre Politiker die Regierung und die Justiz wegen der Verhaftungen kritisiert. Und das obwohl gegen ihn selbst Gerichtsverfahren und Ermittlung laufen, die das politische Aus für ihn bedeuten könnten.
Der Justizapparat wirft ihm verschiedene Beleidigungen von Beamten und Korruption vor. Imamoglu hat die Vorwürfe zurückgewiesen, eine Verurteilung könnte ihn aber von den nächsten Wahlen ausschließen. Ihm könnte sogar eine Gefängnisstrafe von vier Jahren drohen. Und Imamoglu gilt als aussichtsreichster Kontrahent Erdogans bei einer nächsten Wahl.

Anhänger des Istanbuler Oberbürgermeisters Imamoglu protestieren dagegen, dass Ermittlungen gegen den CHP-Politiker laufen.
Warum gerade jetzt?
Warum aber geht die türkische Justiz gerade jetzt gegen vermeintliche Kritiker so hart vor, zieht die Zügel wieder an? Wie so vieles in der Türkei könnte das mit Recep Tayyip Erdogan zusammenhängen. Seit der Jahrtausendwende bestimmt der 70-jährige AKP-Chef die türkische Politik.
Erdogan ist seit 2014 Präsident und hat durch das von ihm initiierte Verfassungsreferendum von 2017 fast unbeschränkte Vollmachten. Nun strebt er offenbar eine weitere Amtszeit an, die aber in der Verfassung nicht vorgesehen ist.
Durch vorzeitige Neuwahlen (reguläre würden erst 2028 stattfinden) könnte das Vorhaben klappen. Dazu müsste er aber das Parlament mit Zweidrittelmehrheit auflösen oder die Verfassung ändern. Das geht nur mit Zustimmung der Oppositionsparteien. Danach müssten diese Wahlen auch noch gewonnen werden.
Bei den vielen Problemen in der Türkei wie der Wirtschaftskrise, der Inflation und der steigenden Arbeitslosigkeit ist das aber nicht garantiert. Starke Konkurrenten könnten da gefährlich werden.
Und da kommt wieder Ekrem Imamoglu ins Spiel. Er führt gerade die Umfragen an, könnte also ein gefährlicher Gegner für den erfolgsverwöhnten Erdogan werden. In Erdogans Umgebung nimmt die die Nervosität also zu, man versucht Stärke zu zeigen und die Gegner einzuschüchtern, sogar auszuschalten.
Arbeitgeberpräsident abgeführt
Niemand wird offenbar verschont. Am Donnerstag wurde der Chef der mächtigen türkischen Arbeitgebervereinigung TÜSIAD, Ömer Aras, in Istanbul von der Polizei abgeführt. Er muss vor Gericht aussagen. Gegen Auflagen wurde er freigelassen, nun droht ihm ein Prozess. Er hatte bei einer Rede die Justiz kritisiert. Der Türkei könnten unruhige Zeiten bevorstehen.