Der Leopard-2-Kampfpanzer der Bundeswehr nimmt zum Abschluss an der NATO-Übung Quadriga 2024 teil.
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Drei Jahre nach Scholz-Rede Wie geht es weiter mit der Zeitenwende?

Stand: 27.02.2025 11:31 Uhr

Vor genau drei Jahren schlug Kanzler Scholz ein Sondervermögen zur Stärkung der Bundeswehr vor. Was ist daraus geworden und welche neuen Herausforderungen stehen an?

Eine Analyse von Oliver Neuroth und Uli Hauck, ARD-Hauptstadtstudio

Es sind Worte für die Geschichtsbücher. "Wir erleben eine Zeitenwende", sagt Olaf Scholz am 27. Februar 2022 im Bundestag. Drei Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Die Welt danach sei nicht mehr dieselbe wie die Welt davor, stellt der Kanzler fest. Und er kündigt an, mehr in die deutsche Sicherheit zu investieren.

Scholz bringt ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro auf den Weg. Die Bundeswehr soll nach jahrelangem Sparkurs fit gemacht werden - mit Blick auf die neue Bedrohungslage. Verteidigungsminister Boris Pistorius wird später von "kriegstüchtig" sprechen.

"Man hätte einiges beschleunigen können", Oliver Neuroth, ARD Berlin, zur "Zeitenwende"-Rede von Kanzler Scholz vor drei Jahren

tagesschau24, 27.02.2025 10:00 Uhr

"Man hätte schneller sein können"

Doch für die Bundeswehr dauert es lange, bis die Zeitenwende konkret wird, bis sie sich in neuer Ausrüstung widerspiegelt. Im Jahr 2022 fließen vom Sondervermögen genau 0 Euro ab. Klar, Panzer und Kampfflugzeuge sind hochspezielle Produkte, die erst auf Bestellung gefertigt werden und nicht von heute auf morgen ausgeliefert sind. Militärkenner und Autor Christian Schweppe ist aber der Meinung: "Man hätte schneller sein können und müssen. Und heute fragt man sich: Was ist denn aus diesen 100 Milliarden geworden?"

Schweppe hat das Buch "Zeiten ohne Wende, Anatomie eines Scheiterns" geschrieben und dafür die Schritte der Ampelregierung in der Verteidigungspolitik genau beobachtet. "Wir sind noch Jahre entfernt von neuen Kampfjets, von neuen Patriot-Luftverteidigungssystemen und all diesen Dingen, die dringend gebraucht werden," sagt Schweppe im Interview mit dem rbb. Er kommt zum Schluss, dass Deutschland noch weit entfernt sei von einem Zustand, in dem man das habe, was es sicherheitstechnisch brauche.

Verfahren mussten beschleunigt werden

Ein Problem: Als der Kanzler die Zeitenwende ausruft, ist die Bundeswehr ein bürokratischer und oft schwerfälliger Apparat. Gerade das Beschaffungsamt in Koblenz gerät immer wieder in die Kritik. Offiziell heißt die Behörde: Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr. Verteidigungsminister Boris Pistorius spricht selbst von der "meistgebashten Behörde Deutschlands".

Er stößt Veränderungen an: Verfahren werden beschleunigt, 80 Vorschriften abgeschafft. Das Amt setzt nun verstärkt auf militärische Ausrüstung, die am Markt verfügbar ist, anstatt Gerät speziell für die Bundeswehr entwickeln zu lassen. "Die Behörde hat den Turnaround geschafft," stellt Pistorius Mitte Februar bei einem Besuch in Koblenz fest. "Hier wird Zeitenwende umgesetzt."

Die Reform des Beschaffungsamts drückt sich auch in Zahlen aus: 2024 bringt es 97 Großprojekte für insgesamt rund 60 Milliarden Euro auf den Weg, so viele wie nie zuvor in einem Jahr. Pistorius kündigt an, dass das Heer bald schon neue Radhaubitzen und einen Nachfolger für den Transportpanzer Fuchs bekommt. Im Sommer ist der Rollout des modernsten Kampfpanzers der Welt geplant, der neuesten Version des Leopard 2.

Politologin Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik sieht in der Zeitenwende viele Erfolge in der Sicherheitspolitik. "Da sind sehr große, fast schon revolutionäre Fortschritte gemacht worden", sagt Major im Interview mit Phoenix. Sie verweist auf den gestiegenen Verteidigungshaushalt, die Brigade in Litauen, die gerade aufgebaut wird und die Waffenlieferungen an die Ukraine aus Beständen der Bundeswehr. "All das wäre im Januar 2022 unvorstellbar gewesen."

Allerdings stellt die Expertin auch klar: Mit Blick auf die Zukunft reiche das nicht aus. Die Verteidigungsausgaben Deutschlands sind zwar auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen - dank des Sondervermögens für die Bundeswehr - doch die NATO selbst definiert mittlerweile das Zwei-Prozent-Ziel als die Untergrenze. Forderungen nach drei Prozent und mehr werden laut. Auch vor dem Hintergrund der politischen Drohungen aus den USA: Die neue Regierung in Washington deutet an, sich künftig weniger für die Verteidigung Europas und der Ukraine einzusetzen und stellt NATO-Verpflichtungen infrage.

Die Zukunft der deutschen Sicherheitspolitik sei ins Wanken geraten, sagt Jana Puglierin, die Leiterin des Thinktanks European Council on Foreign Relations in Berlin, im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio. "Wir stehen im Prinzip vor den Scherben dessen, was wir eigentlich als Ansicht hatten, wie die Welt eigentlich funktioniert und wie unsere Rolle ist. Wir müssen jetzt vom Reden ins Tun kommen und uns positionieren."

Die Zeit drängt

Die Eile, mit der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz bereits einen Tag nach der Bundestagswahl über eine Reform der Schuldenbremse oder ein neues Sondervermögen gesprochen hat, ist erstaunlich. Man kann den Vorstoß einer Reform als Verhandlungsmasse für die SPD und mögliche Koalitionsgespräche deuten.

Aber auf der anderen Seite hat Friedrich Merz auf der Münchner Sicherheitskonferenz auch direkt erfahren, wie fragil es um die transatlantische Freundschaft mittlerweile bestellt ist. Seit der dortigen Rede des US-Vizepräsident JD Vance ist klar, es geht nicht mehr nur um höhere Verteidigungsausgaben und eine stärkere Unterstützung der Ukraine durch die Europäer.

Vielmehr könnte die Wertebasis als Grundlage für eine gemeinsame Sicherheitspolitik wegbrechen. Der altgediente Transatlantiker Merz ist seitdem zum lautstarken Kritiker der Trump-Regierung geworden. Der wahrscheinlich nächste Bundeskanzler hat offenbar die Befürchtung, dass auf die US-Amerikaner künftig kein Verlass mehr sein könnte. Dass die Trump-Administration das Interesse an Europa verlieren könnte.

Worst-Case-Szenarien

In Berlin wird längst auch in Worst-Case-Szenarien gedacht. Man stellt sich die Frage, was passieren müsste, wenn die USA ihre Truppen und all ihre Ausrüstung in Europa doch abziehen würden. Wenn sich die Europäer beispielsweise nicht mehr auf die ballistische Raketenabwehr der Amerikaner verlassen könnten. Und wenn allein in Deutschland 37.000 US-Soldaten in kurzer Zeit weg wären.

Es gibt zwei Alternativen: Entweder die Europäer gehen ins Risiko oder sie rüsten massiv auf. Grundsätzlich könnte die europäische Rüstungsindustrie die Lücken wohl schließen. Aber es ist eine Frage der Kapazitäten und der Zeit, die könnte knapp werden. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, warnt seit Monaten, Russland könnte sich um das Jahr 2029 gegen NATO-Staaten wenden, daher sei die Abschreckung so wichtig.

Europa und Deutschland haben es derzeit also mit drei schwer kalkulierbaren Problemen zu tun: Einer russischen Bedrohung, einem denkbaren Rückzug der US-Amerikaner und gleichzeitig der Möglichkeit, vielleicht doch irgendwann Friedenstruppen in der Ukraine stellen zu müssen.

Eine Frage des Geldes

Experten gehen davon aus, dass all das innerhalb der regulären Schuldenbremse nicht zu finanzieren ist. Alternativ könnte ein neuer Bundestag eine haushaltspolitische Notlage beschließen, wie sie bereits der noch amtierende Bundeskanzler Scholz gefordert hatte. Die hätte allerdings den Nachteil, dass sie nur für ein Jahr gilt und immer wieder neu begründet werden muss, damit sie vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand hat. Eine kontinuierliche Finanzierung der Bundeswehr wäre mit diesem Instrument also schwierig.

Olaf Scholz hat auf der Münchner Sicherheitskonferenz den enormen Finanzbedarf vorgerechnet. Das bisherige Sondervermögen über 100 Milliarden Euro sei nur ein erster Schritt: "Bis Ende dieses Jahrzehnts reden wir über dreistellige Milliardensummen."

Diese enormen Milliardensummen werden von seinem wahrscheinlichen Nachfolger Friedrich Merz nicht infrage gestellt. Um sie zu stemmen, könnte man erneut die Verfassung mit Zweidrittelmehrheit ändern und ein weiteres Sondervermögen auflegen. Das hätte den Vorteil, dass man damit auch langfristige, sogenannte überjährige Rüstungsprojekte, finanzieren könnte. Die Ausgaben wären besser planbar, gleichzeitig könnte es bei der Rüstungsindustrie aber möglicherweise die Preise hochtreiben. Und auch ein neues Sondervermögen hätte eine feste Obergrenze und wäre irgendwann aufgebraucht.

Verteidigungsminister Pistorius hat eine andere Idee: Er sagte der Bild-Zeitung, "für die auskömmliche Ausstattung der Bundeswehr ist eine Ausnahme der Schuldenbremse praktisch unumgänglich." Diese Ausnahme für die Bundeswehr bei der Schuldenbremse könnte man beispielsweise auch zeitlich begrenzen.

Mit dem alten Bundestag könnte eine wie auch immer geplante Verfassungsänderung für ein Bundeswehr-Sondervermögen vermutlich einfacher sein. Die Mehrheitsverhältnisse im neuen Bundestag dürften es dagegen schwieriger machen. Denn CDU/CSU, SPD und Grüne bräuchten rein rechnerisch die Unterstützung von Linken- oder AfD-Abgeordneten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 27. Februar 2025 um 10:00 Uhr.