
Votum zum Koalitionsvertrag "Jusos sind nicht die Mehrheit der SPD"
Die SPD-Mitglieder stimmen von heute an über den Koalitionsvertrag mit der Union ab. Die Jusos wollen ihn ablehnen. Politikwissenschaftlerin Andrea Römmele glaubt dennoch, dass die Mehrheit zustimmen wird.
tagesschau24: Die Jusos lehnen den Koalitionsvertrag ab. Er sei nicht sozialdemokratisch. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?
Andrea Römmele: Ich kann die Kritik ein Stück weit nachvollziehen. Auch wenn wir auf den Wahlkampf zurückblicken, waren doch viele Themen, die gerade der jungen Generation auf den Nägeln brennen, nicht präsent im Wahlkampf.
Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass die Jusos zwar eine beachtliche Gruppe innerhalb der SPD ist, aber nicht die Mehrheit der SPD. Insofern müssten die Jusos deutlich über ihre eigenen Grenzen hinaus mobilisieren, um den Koalitionsvertrag noch zum Kippen zu bringen.

Zugeständnisse an die SPD
tagesschau24: Bei welchen Punkten musste CDU-Chef Friedrich Merz auf die SPD zugehen in den Verhandlungen, weil er wusste, dass die Partei noch zustimmen muss?
Römmele: Die SPD hatte in den Koalitionsverhandlungen natürlich ein ganz großes Pfund, weil sie immer wieder sagen konnte: Wir müssen ja noch unsere Mitglieder befragen. Da wurden vor allem auf den letzten Metern in Sachen Migration und Asyl noch Zugeständnisse an die SPD gemacht.
Beim Mindestlohn wurden Zugeständnisse an die SPD gemacht, auch wenn Friedrich Merz das jetzt am Wochenende noch mal ein Stück weit zur Debatte gestellt hat.
Insgesamt auch bei den Ministerämtern: Die SPD hat etwas mehr als 16 Prozent der Wählerstimmen eingefahren und hat im Vorfeld schon gesagt, dass sie mit sechs Ministerien sehr gut aus den Koalitionsverhandlungen käme. Jetzt sind es sogar sieben geworden.
Die SPD hat wirklich sehr gut verhandelt. Das versuchen jetzt auch diejenigen, die in den Verhandlungen dabei waren, auf den Dialogkonferenzen klar und deutlich zu machen.
"Es geht auch um Vertrauen"
tagesschau24: Geht es den Menschen auf diesen Konferenzen, der Parteibasis, tatsächlich um Posten? Oder schauen die nicht eher auf die Inhalte?
Römmele: Ich denke, sie schauen auf beides. Und es ist auch klar, dass es nicht nur um Posten und Inhalte geht. Sondern es geht auch darum, ob genug Vertrauen zwischen den Parteien entstanden ist, um diese vier Jahre zu gestalten.
Wir wissen ja aus der letzten Ampelregierung, dass ein Koalitionsvertrag nur so lange trägt, bis die nächste große Krise einschlägt. Das war bei der Ampel im Februar 2022 Russlands Invasion in die Ukraine. Und dann muss man so viel Vertrauen ineinander haben, um unter neuen Rahmenbedingungen auch weiterregieren zu können. Insofern ist das Vertrauen der Koalitionäre ineinander wirklich auch etwas, was zentral ist und was die Verhandler der SPD-Basis auch vermitteln müssen.
"Sehr viel im Konjunktiv formuliert"
tagesschau24: Jetzt sind die Koalitionsverhandlungen gerade erst beendet - und dann kommt Merz und stellt das Thema Mindestlohnerhöhung zum Beispiel direkt wieder infrage. Kratzt das nicht am gerade frisch gewonnenen Vertrauen?
Römmele: Ja, da haben Sie natürlich Recht. Das kratzt etwas am frisch gewonnenen Vertrauen. Aber wir wissen auch, wenn wir den Koalitionsvertrag genauer lesen, dass da sehr viel im Konjunktiv formuliert ist, dass viel unter Finanzierungsvorbehalt steht.
Es ist die zentrale Aufgabe der Verhandlerinnen und Verhandler, der SPD-Basis glaubwürdig zu vermitteln, dass man hinreichendes Vertrauen ineinander hat. Da bin ich mir sicher, dass SPD-Verhandler jetzt auch auf Friedrich Merz zugegangen sind und gesagt haben: So ganz günstig ist diese Aussage nicht. Aber alles in allem rechne ich schon damit, dass die SPD diesem Koalitionsvertrag zustimmen wird.
Minderheitsregierung "kann keine Lösung sein"
tagesschau24: Es steht die Drohung im Raum: Wenn das jetzt nicht klappt, dann drohen womöglich Neuwahlen und dann könnte die AfD noch weiter vorn liegen. Sehen Sie diese Gefahr?
Römmele: Ich sehe diese Gefahr auch. Welche Regierung sollte sonst übernehmen, wenn jetzt nicht Schwarz-Rot? Wenn die SPD-Mitglieder diesem Koalitionsvertrag nicht zustimmen, fehlt der Union ja ein Koalitionspartner.
Da würde letztendlich nur eine Minderheitsregierung infrage kommen. Schwarz-Grün hätte auch keine Mehrheit im Parlament. Das kann keine Lösung sein.
"Regierung unter enormem Druck"
tagesschau24: Lars Klingbeil hat ja vermutlich nicht ganz von ungefähr auch das Jahr 2033 ins Spiel gebracht. Wie groß ist der Druck auf Union und SPD, sich zusammenzureißen und auf jeden Fall durchzuhalten?
Römmele: Er hat 2029 als das Jahr der nächsten Bundestagswahl ins Spiel gebracht. Und dann auch 2033, also 100 Jahre nach Hitlers Machtergreifung.
Es ist vollkommen klar, dass die jetzige Regierung unter einem enormen Druck steht, Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wieder zurückzugewinnen. Und das schafft sie nur durch erfolgreiche Politik, durch eine Politik, die umgesetzt wird, durch ein positives Narrativ, das daraus entsteht.
Nur so kommt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wieder zurück in die Politik. Und nur so kann man die AfD stückweise kleiner werden lassen. Halbieren ist ja das Ziel, das Friedrich Merz schon öfter genannt hat.
"Die großen Herausforderungen meistern"
tagesschau24: Auf welche Themen müsste die Regierung aus Union und SPD setzen, um nicht zu sehr am rechten Rand zu fischen, aber dennoch alle Menschen in Deutschland mitzunehmen? Denn wir haben ja die Tendenz, dass die Ränder jeweils gewachsen sind.
Römmele: Die Union hat es im Wahlkampf schon erlebt: Nur auf das Thema Migration und Asyl zu setzen, auf das die AfD so stark setzt, reicht nicht aus. Also die AfD einfach nur zu kopieren, wird der AfD weiter Stimmen zuspülen.
Es geht darum, die großen Herausforderungen zu meistern. Dazu gehört sicherlich Geopolitik. Die große Frage der Sicherheitspolitik: Wie können wir uns selbst auch verteidigen?
Aber man darf die zentralen Themen wie Klima, Infrastruktur, Digitalisierung und KI, die große Frage der Urbanisierung, und damit verbunden die des Wohnens, nicht aus den Augen verlieren. Und die zukünftige Bundesregierung muss Antworten darauf finden und vor allem schnell Lösungen präsentieren.
Das Gespräch führte André Schünke. Es wurde für die schriftliche Version gekürzt und redigiert.