
Berlin 20. Todestag Hatun Sürücü: "Es würde mir so das Herz brechen, wenn dieses Grab wegkommen würde"
Vor 20 Jahren wurde die Deutsch-Kurdin Hatun Sürücü in Berlin von ihrem Bruder erschossen, weil sie frei und selbstbestimmt leben wollte. Für viele junge Frauen scheint sie heute ein Vorbild zu sein. Von Jo Goll
7. Februar 2005, kurz nach 21 Uhr. Hatun Sürücü begleitet ihren jüngsten Bruder Ayhan zur Bushaltestelle. Zuvor hatten sich die beiden in der nahegelegenen Wohnung der 23-Jährigen Deutsch-Kurdin gestritten – wegen des angeblich westlichen Lebensstils der jungen Frau. Kurz bevor sein Bus kommt, fragt Ayhan seine Schwester: "Bereust Du Deine Sünden?" Dann schießt er ihr drei Mal in den Kopf. Hatun Sürücü ist sofort tot. Ein sogenannter "Ehrenmord", der Berlin und das ganze Land erschüttert und viele bis heute beschäftigt.
Grabstelle läuft nach 20 Jahren aus
Wer in diesen Tagen Hatuns Sürücüs Grab auf dem Landschaftsfriedhof Gatow besucht, erlebt eine Überraschung. Frische Blumen und Pflanzen säumen die Grabstätte im islamischen Teil des am Waldrand gelegenen Friedhofs, dazu ein kleines Gemälde, das Hatun Sürücü zeigt. Darunter die Namen von Frauen, die Elif, Yasmin, Nisa, Elina und Alicija heißen. Diese jungen Frauen haben offenbar kürzlich das Grab besucht.

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Lange sah es hier ganz anders aus, denn niemand pflegte die letzte Ruhestätte der jungen Mutter, ihre Familie hatte sich nie dafür interessiert.
Inzwischen kümmern sich andere um das Andenken an Hatun Sürücü – auch im Internet. Auf TikTok finden sich zahllose Videos, in denen sich junge Frauen, häufig migrantischer Herkunft, über Hatun Sürücü und ihren mutigen Kampf für ein freies und selbstbestimmtes Leben austauschen. Eine Userin erzählt, sie habe gerade mit der Friedhofsverwaltung telefoniert und sich dafür eingesetzt, dass das Grab nicht im Laufe dieses Jahres geräumt wird, wie es nach 20 Jahren auf deutschen Friedhöfen normalerweise üblich ist.
"Es würde mir so das Herz brechen, wenn dieses Grab wegkommen würde", sagt die junge Frau in die Kamera. "Und nächstes Jahr schauen wir, was uns das kostet und ich weiß, wir stemmen das alles gemeinsam."

Grab soll erhalten werden
Auch der Bezirk Spandau möchte die Grabstelle Hatun Sürücüs erhalten. Nachdem man sich beim Land Berlin ohne Erfolg um die Einrichtung eines Ehrengrabs bemüht habe, denke man jetzt über andere Konzepte nach, teilte das Büro von Bezirksbürgermeister Frank Bewig (CDU) dem rbb mit. Derzeit prüfe Baustadtrat Thorsten Schatz die Möglichkeit, die Grabstelle in eine neue Anlage zu integrieren und auf diese Weise zu erhalten.
"Ihr Grab sollte als ein Ort des Friedens umgestaltet werden", schreibt eine junge Frau im Netz. Hatun Sürücü ist für viele junge Frauen in der gesamten Republik zu einem Symbol geworden, so scheint es.

"Sie war ein kleiner Sonnenschein"
"Gut so", sagt Sabine Schiechel im Gespräch mit rbb24 Recherche zufrieden. Die Sozialarbeiterin war im Jugendamt Kreuzberg für Hatun Sürücü zuständig und hatte über Jahre immer wieder Kontakt zu ihr. "Sie war eine fröhliche und lebensbejahende junge Frau, ein kleiner Sonnenschein, immer ein nettes Sprüchlein auf den Lippen." Wenn Schiechel über Hatun Sürücü spricht, sieht man ihr an, dass sie der Tod der jungen Frau bis heute erschüttert. "Die Trauer von damals kommt immer wieder hoch und es sind mir Bilder in Erinnerung, die mich wahrscheinlich nicht mehr loslassen werden."
Sabine Schiechel hat Hatun Sürücü zu Lebzeiten tatkräftig unterstützt, ihr zum Beispiel dabei geholfen, dass sie den Führerschein machen konnte. Auch die Erfüllung ihres größten Wunsches, mit ihrem kleinen Sohn Can in eine eigene Wohnung zu ziehen, hat sie damals unterstützt.

Ein letzter Gefallen
Einige Monate nach ihrem Tod konnte Sabine Schiechel Hatun Sürücü ein letztes Mal helfen. Als Hatuns ältere Schwester bei Gericht einen Antrag stellte, um Hatuns damals fünfjährigen Sohn Can zu adoptieren, machte Schiechel mit einer Kollegin einen Hausbesuch bei den Sürücüs. In der Vier-Zimmer-Wohnung am Kottbusser Tor, in der Hatun Sürücü mit ihren drei Schwestern und fünf Brüdern aufwuchs, führten die beiden Frauen ein Gespräch mit Hatuns Mutter und ihrer ältesten Schwester. "Es war ein sehr kühles Gespräch", erinnert sie sich. "Uns haben einfach die Emotionen gefehlt. Immerhin ist die junge Frau angetreten, ein Kind zu adoptieren, das gerade seine Mutter verloren hat, also einen schweren Bruch in seiner Bindung erlebt hat."
Schiechel und ihre Kollegin lehnten in ihrem Gutachten eine Adoption von Hatun Sürücüs Jungen ab. Das Familiengericht folgte dem Votum und vollstreckte damit praktisch Hatun Sürücüs letzten Wunsch. "Hatun hat mir mehrfach gesagt und auch schriftlich niedergelegt, dass ihr Sohn, sollte ihr einmal etwas zustoßen, auf keinen Fall zu ihrer Familie kommen soll", sagt Schiechel. Es ist förmlich zu spüren, wie ihr dabei noch immer ein Schauer über den Rücken kriecht. Can kam damals in eine Pflegefamilie, mehr ist über sein Schicksal nicht bekannt.

Eltern suchen den Partner aus
Auch die Frauenrechts-Organisation Terre des Femmes hält das Andenken an Hatun Sürücü wach. In mehreren Veranstaltungen und Online-Diskussionen berichten die Mitarbeiterinnen in diesen Tagen von ihrer Arbeit zu den Themen Zwangsheirat und "Ehrenmord". Positiv bewertet Referatsleiterin Myriam Böhmecke, dass sich in den vergangenen 20 Jahren eine erhöhte Sensibilisierung in der Gesellschaft für diese Themenfelder entwickelt habe. Und das sei dringend nötig, sagt sie: "Das Thema ist leider nach wie vor sehr aktuell." Häufig würden junge Schülerinnen davon erzählen, dass es in vielen Familien noch immer normal sei, dass Eltern den Mann aussuchten und sie kein Mitbestimmungsrecht hätten. Dass Mädchen sehr streng kontrolliert würden, dass sie zum Beispiel von den eigenen Brüdern oder Cousins von der Schule abgeholt würden und nicht an außerschulischen Aktivitäten wie Klassenfahrten oder Schwimmkursen teilnehmen dürften.
Auch junge Männer sind von "Ehrenmord" bedroht
Präventionsarbeit müsse gerade in Schulen ansetzen, sagt Myria Böhmecke. Schule sei häufig der einzige öffentliche Ort, wo bedrohte Mädchen und Frauen hingehen dürften. Nur dort hätten sie die Möglichkeit, Hilfe zu suchen. "Deshalb gehen wir immer häufiger mit der Polizei in die Schulen und machen zurzeit in zwei Projekten Präventionsarbeit", sagt Böhmecke.
Lehrkräfte, Schulsozialarbeiterinnen, Mitarbeiterinnen der Polizei und der Jugendämter müssten unbedingt geschult werden, um Mädchen beraten zu können. Den Mädchen müsste dringend dabei geholfen werden, aus diesen bedrohlichen Situationen herauszukommen.
Auch junge Männer seien immer häufiger bedroht, sagt Böhmecke. "Insbesondere Lehrkräfte erzählen uns immer wieder, dass es auch in Deutschland Jungen gibt, die von Zwangsheirat betroffen sind." Man gehe aber davon aus, dass immer noch sehr viel mehr Mädchen und Frauen betroffen seien.
Böhmecke kritisiert, es habe seit 2008 keine verlässliche polizeiliche Statistik zum Thema "Ehrenmord" mehr gegeben. Für die Jahre 2023 und 2024 habe Terre des Femmes in Deutschland über eine Presse-Recherche 20 vollzogene und 5 versuchte "Ehrenmorde" an 19 Frauen und 6 Männern gezählt.
Freispruch für die Brüder
Ayhan Sürücü wurde für seine Tat in Berlin zu neun Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Nach Verbüßung seiner Strafe wurde er 2014 sofort in die Türkei abgeschoben. Heute lebt er in Istanbul und betreibt dort einen Köfte-Imbiss.
Auch seine im Berliner Prozess mitangeklagten Brüder Mutlu und Alpaslan leben seit vielen Jahren am Bosporus. Sie mussten sich im Jahr 2016 einer Neuauflage des Prozesses wegen Beihilfe zum Mord vor einer Istanbuler Strafkammer stellen. Doch wie im Verfahren vor dem Berliner Landgericht nahm ihr jüngerer Bruder Ayhan die gesamte Schuld auf sich. "Ich habe es allein getan, niemand hat mich dabei unterstützt." Für ihn hatte diese Aussage keinerlei Konsequenzen, er wurde nur als Zeuge gehört. Seine Brüder wurden freigesprochen.
Sendung: radio 3, 07.02.2025, 07:10 Uhr