
Berlin Berlinale-Chefin: "Ich möchte, dass es kein Drama gibt, und dass alle über Filme sprechen"
Tricia Tuttle leitet erstmals die Berlinale – und das gleich im Jubiläumsjahr. Im Interview spricht sie über Stars und Filme, politische Debatten, die Bedeutung von Vielfalt und warum sie optimistisch in die Zukunft blickt.
rbb: Tricia Tuttle, Stars wie Timothée Chalamet, Robert Pattinson und Jessica Chastain haben ihr Kommen angesagt, das Programm der Berlinale ist veröffentlicht. Wie geht es Ihnen kurz vor dem Festival?
Tricia Tuttle: Ich fühle mich fantastisch. Ich freue mich sehr darauf, dass unsere Filmemacher unser Publikum treffen - und dass die Leute jetzt die Filme sehen, die wir in den letzten sieben oder acht Monaten gesehen haben.
Es ist Ihre erste Berlinale als Intendantin. Haben Sie sich schon in Berlin eingelebt?
Ich mag meinen Kiez im Prenzlauer Berg sehr. Ich wohne in der Choriner Straße, und dort gibt es viele tolle Cafés, Bars und Restaurants. Bis jetzt ist das mein Lieblingsort.

Ist es für die Berlinale ein Quantensprung, dass erstmals eine Frau allein an der Spitze steht?
Ich trete in die Fußstapfen von Mariette Rissenbeek, die vor mir Direktorin war. Aber ja: Ich bin sowohl für die kreative als auch für die wirtschaftliche Leitung verantwortlich. Für mich als junge Frau war es zu meinen Anfängen in der Filmindustrie sehr inspirierend und wichtig, Frauen zu sehen, die erfolgreich waren und Dinge taten, die auch ich tun wollte. Ich weiß also, dass es wirklich einen Einfluss haben kann.
Als Sie voriges Jahr im April anfingen, mussten Sie einige Brände löschen. Die israelkritischen Äußerungen bei der Abschlussgala 2024 haben zu viel Aufregung geführt. Wie werden Sie damit umgehen, sollte so etwas dieses Jahr wieder passieren?
Nachdem ich mit vielen Leuten gesprochen habe, habe ich das Gefühl, dass es nicht so sehr um einzelne Aussagen ging. Es war das kumulative Gefühl der Einseitigkeit, dass die Menschen im letzten Jahr wirklich beunruhigt hat, und auch das Fehlen anderer Meinungen - Empathie für die Geiseln - insbesondere bei der Abschlussgala. Da wir die Redefreiheit schützen müssen, liegt es in der Verantwortung des Festivals, nach Wegen zu suchen, um für Ausgewogenheit zu sorgen und dafür, dass all unsere Zuschauer das Gefühl haben, dass sie einen Platz auf dem Festival haben und dass sie sich gehört und gesehen fühlen.

Am Berlinale-Publikumstag am 23. Februar ist auch die Bundestagswahl in Deutschland. Wie wird die Berlinale in diesem Jahr ihrem Ruf gerecht, das politischste der drei großen A-Festivals zu sein?
Es gibt viele verschiedene Dinge, die wir meinen, wenn wir von einem politischen Festival sprechen. Ich glaube nicht, dass es Aufgabe der Berlinale ist, den Leuten zu sagen, wen sie wählen sollen. Kino ist im Allgemeinen politisch, weil es immer die Perspektive von jemandem ist. Oft ist es ein Blick auf die Welt, in der wir leben, und in der viele Dinge beunruhigend sind. Aber nicht alles, was auf dem Festival gezeigt wird, ist politisch mit einem großen "P". Ich werde euch nicht sagen, wie ihr wählen sollte. Aber ich sage: Geht wählen.
Wie nehmen Sie als Amerikanerin, die lange Zeit in London gelebt hat, die Stimmung in Deutschland wahr?
Wie im Rest der Welt ist es schwierig, zerrissen und unruhig. Das gibt den Menschen aber auch Energie. Ich bin optimistisch und glaube, dass die Menschen in schwierigen Zeiten ihre Stimme finden und auf eine Art und Weise zusammenkommen, die wirklich stark sein kann. Ich glaube, das Kino ist ein Ort, an dem wir uns versammeln können. Wenn es eine politische Idee bei der Berlinale gibt, dann ist es die Feier der Unterschiede. Das ist etwas, was ich immer an diesem Festival geliebt habe. Und das ist etwas, das ein wenig bedroht ist, nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt, weil einige Leute zum Ausdruck bringen, dass sie keine Unterschiede wollen. Aber Unterschiede machen uns stärker.

Lassen Sie uns über die Filme sprechen. Worauf sind Sie in diesem Jahr besonders stolz?
Ich bin sehr stolz, dass wir es geschafft haben, ein so tolles Programm auf die Beine zu stellen, obwohl wir sehr spät dran waren. Timothée Chalamet, Robert Pattinson, Steven Yeun, Jessica Chastain, Jacob Elordi, Bong Joon-Ho, Richard Linklater - das ist einfach eine aufregende, unglaubliche Liste von Filmemachenden und Schauspielenden. Diese Art von Energie wird jeden für das Kino begeistern, und darum geht es ja.
Warum gibt es im diesjährigen Wettbewerb nur zwei Filme von deutschen Regisseuren, die zudem relativ unbekannt sind? Ein großer Name wie etwa Tom Tykwer läuft hingegen als Berlinale Special Gala.
Wenn man ein Programm macht, kann man nicht einfach einen einzelnen Film isolieren. Alle Filme stehen in einer Beziehung zueinander. Tom Tykwers “Das Licht” war einer der ersten Filme, die ich gesehen habe. Ich wusste sofort, dass ich ihn als Eröffnungsfilm des Festivals haben wollte. Ich wusste zu dem Zeitpunkt auch schon, dass wir die Eröffnungsgala in sieben Städte außerhalb Berlins übertragen wollen. Da kann man nicht den Eröffnungsfilm im Wettbewerb zeigen und ihm damit eine andere Plattform bieten als den anderen.
Sie haben "Encounters" abgeschafft und den neuen Wettbewerb "Perspectives" für Debütfilme ins Leben gerufen. Warum?
Ich mochte die Filme in "Encounters", aber einige von ihnen hätten auch im Forum laufen können, einige im Wettbewerb oder im Panorama. Ich wollte mehr Raum zwischen diesen beiden Sektionen schaffen, aber ich bin auch wirklich begeistert von Erstlingsfilmen. Manchmal gibt es Filmemacher, die alle möglichen Regeln brechen und in ihrem ersten Spielfilm, so viele Ideen umsetzen, die schon lange in ihnen schlummern. Ich hatte das Gefühl, das "Perspectives" die Leute begeistern und das Rampenlicht auf neue Filmemacher lenken könnte. Es ist gut für das Festival und gut für die Filmemacher.
Wie wollen Sie das diesjährige 75. Jubiläum der Berlinale feiern?
Ich möchte ein großartiges Festival haben. Ich möchte, dass es kein Drama gibt und dass alle über Filme sprechen.
Wie sehr konkurrieren die Oscars und die Berlinale um die Anwesenheit von Stars, also wie schwierig ist es, Weltstars im Februar nach Berlin zu bekommen?
Für uns war es dieses Jahr nicht schwer. Wir haben einige spannende Regie- und Schauspieltalente dabei. Ich spüre, dass nicht nur die nationale, sondern auch die internationale Branche eine starke Berlinale sehen will. Deshalb ist es sehr toll, dass zum Beispiel Edward Berger kommen wird und Tilda Swinton den Goldenen Ehrenbären überreicht. Er macht das, weil er Tildas Arbeit liebt, aber auch, weil er das Festival liebt und will, dass es erfolgreich ist. Diese Liebe spüre ich auch bei der Branche im Allgemeinen.
Auf welchem Moment freuen Sie sich am meisten?
Auf den Eröffnungsabend, auf die Bühne des Berlinale-Palasts zu gehen und danach das ganze Festival zu erleben. Ich liebe es, ein Festival zu planen. Aber wenn es erst einmal angefangen hat, hat man so ein Gefühl der Ruhe. Denn egal, was passiert, selbst wenn ich von einem Bus überfahren werde, wird das Festival auch ohne mich weitergehen. So kann ich mich entspannen und das Festival genießen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Anna Wollner für rbb24 Inforadio. Dieser Beitrag ist redigiert und leicht gekürzt. Das Original-Interview können Sie mit Klick auf das Audiosymbol oben im Artikel nachhören.
Sendung: rbb24 inforadio, 10.02.2025, 08:45 Uhr