
Berlin Ein Favorit für den Goldenen Bären - die ukrainische Doku "Timestamp"
"Timestamp", die einzige Doku im Wettbewerb, zeigt den Schulbetrieb in der Ukraine während des russischen Angriffskriegs. Ein sehr eindrücklicher Film, der zum engen Favoritenkreis für den Goldenen Bären gehört. Von Fabian Wallmeier
Menschenleere Schulräume sind zu sehen. Die Stühle sind hochgestellt, einige Räume sind nicht im besten Zustand. Ein Vorhang weht im Wind, aus der Ferne ist eine Art Donnern zu hören, man denkt sofort an Gefechtslärm.
Doch die ukrainische Dokumentation "Timestamp" legt zu Begin eine kleine falsche Fährte. Nach dem nächsten Schnitt sehen wir eine Klasse beim Sportunterricht, sie trampeln über einen Parcours und dribbeln Bälle auf den Boden. Mit diesem Überraschungseffekt macht Regisseurin Kateryna Gornostai klar: Es geht in ihrem Film nicht primär um den Krieg, sondern um das Weiterleben der Menschen im Krieg und dem Krieg zum Trotz.
Die Entfernung von der Front
Schauplätze ihres von März 2023 bis Juni 2024 gefilmten Wettbewerbsbeitrags sind Schulen im ganzen Land. Eingeführt werden sie jeweils mit der Einblendung des Städtenamens und der jeweiligen Entfernung von der Front.
Wieviel das ausmachen kann, zeigt Gornostai etwa, indem sie zwei Klassen zeigt, die ihren Abschluss feiern. Im brutal zerstörten besetzten Bakhut findet die Feier nur per Videoschalte statt. Wir sehen eine Schülerin, die sich schick gemacht hat, hinter sich für die Computer-Kamera ein paar Ballons in den Farben der ukrainischen Nationalflagge drapiert hat - und nach der Zeremonie überwältigt und weinend ihrer Mutter in den Armen liegt. In Cherkasy dagegen, 265 Kilometer von der Front entfernt, tanzen die aufgebrezelten Schüler:innen am Strand des Dnepr-Ufers.
Der kollektive Zustand eines Landes
"Timestamp" hat keine Hauptprotagonist:innen, auch wenn manche Menschen mehrmals auftauchen. Gornostai springt von Ort zu Ort, von Schule zu Schule. Es geht hier offenkundig nicht in erster Linie um die Betroffenheit der einzelnen Menschen im Schulbetrieb, sondern um den kollektiven Zustand eines Landes und seiner Jugend am Beispiel der Schulen.
Im Unterricht ist der Krieg allgegenwärtig. Immer wieder unterbrechen Sirenen die Schulstunde - längst Routine für alle Beteiligten. Sie gehen zügig, aber unaufgeregt in den nächsten Schutzraum und warten, bis Entwarnung kommt - oder führen den Unterricht dort einfach fort.

Der Krieg unterbricht den Unterricht aber nicht, sondern er wird auch an vielen Stellen Unterrichtsstoff. Schüler:innen werden unterrichtet in Erster Hilfe und lernen, wie man man im Wald überlebt. Ihnen wird eingebläut, was alles ins Notgepäck muss, wenn sie plötzlich fliehen müssen. Es ist von großer Beklemmung, wenn man sieht, wie normal der praktische Umgang Ausnahmezustand und seinen Gefahren für die Lehrer:innen und Schüler:innen geworden ist.
Im Geschichtsunterricht ist derweil ein Thema die fortwährende Unterdrückung der Ukraine durch Russland. Und im Englischunterricht lernen junge Schüler:innen, als Spielzeug getarnte Minen zu erkennen. "Is it a dangerous toy", fragt die Lehrerin, während sie auf einem Fernsehschirm Bilder zeigt. "If it's a dangerous toy, we all say: Danger!" Und die Kinder machen mit. "Danger", schallt es da aus dem Raum, als wäre dieses potenziell lebensrettende Training ein spannendes Spiel.

"Dem Leben ins Auge sehen"
Schule im Krieg bedeutet eben nicht zuletzt, eine Schule für das Leben im Ausnahmezustand zu sein. Aber sie bedeutet eben nicht nur das. Die Schüler:innen müssen auch vorbereitet sein für ein Leben nach dem Ausnahmezustand. "Schaut nicht dem Krieg, sondern dem Leben ins Auge", sagt ein Soldat bei einer Abschlussfeier zu den Absolvent:innen.
Dass das Schulleben weitergehen muss und wie schwierig das ist, zeigt ein Beispiel aus Borodianka. Die dortige Highschool wurde im März 2022 bei einem russischen Luftangriff zerstört. Und auch zwei Jahre später ist die geplante neue Schule nur eine Baustelle, auf der viel zu wenig passiert. Wir sehen aufgeregte Bürger:innen, die dafür demonstrieren, dass die Bauarbeiten weiter gehen. Wie aufgeheizt die Diskussion mit dem Bürgermeister schnell wird, zeigt: Hier liegen die Nerven verständlicherweise blanker als es etwa bei verschleppten Bauarbeiten in Berlin der Fall wäre.

Gornostai filmt keine Interviews, sondern begleitet nur das Geschehen. Zugleich thematisiert sie gleich zu Beginn die Tatsache, dass ein Kamerateam eben niemals nur unsichtbar beobachtet. In einer der ersten Szenen in Bucha bei Kyiw winken gleich mehrere Kinder offen in die Kamera. Das bleibt nicht so, aber es macht einmal für den Rest des Films klar: Wir Filmemacher:innen sind uns unserer Rolle bewusst.

Das Leben geht weiter
Auch wenn der Film sich mit seiner Länge von gut zwei Stunden vielleicht einen Tacken zu lang anfühlt: Sehr viele der Sequenzen sind von großer Kraft, Einblicke in eine Normalität gewordene Dauerzumutung. Eigentlich kaum vorstellbar, dass "Timestamp" nicht irgendeinen Bären mit nach Hause nehmen wird. Sehr gut möglich auch, dass es sogar der Goldene sein wird.
Am Ende des Films stehen wieder die leeren Klassenräume - und ein Hoffnungsschimmer: Die letzte Einstellung zeigt einen Baum auf einem Schulhof. Die Sonne scheint und allmählich hören wir Vögelgezwitscher und Stimmengewirr. So banal es sein mag, so existenziell ist es zugleich in Kriegszeiten: Das Leben geht weiter.
Sendung: Radioeins, 21.02.2025, 17:00 Uhr