
Berlin Gaza-Proteste: Europarat sieht Meinungsfreiheit in Gefahr
Der Menschenrechtskommissar des Europarats kritisiert das Vorgehen der deutschen Behörden bei Gaza-Protesten. Er sieht die Meinungsfreiheit in Gefahr. Was sagen Berliner Polizei und Senat zu den Vorwürfen? Von Yasser Speck
Michael O'Flaherty, Menschenrechtskommissar des Europarats, zeigt sich besorgt über das Vorgehen der deutschen Behörden bei pro-palästinensischen Protesten. In einem Brief an Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) wirft er den deutschen Behörden vor, die Meinungsfreiheit und die Freiheit des friedlichen Protests einzuschränken.

Schwerwiegende Vorwürfe
"Ich schreibe im Zusammenhang mit Maßnahmen, die von den deutschen Behörden ergriffen wurden und die die Meinungsfreiheit sowie die Freiheit der friedlichen Versammlung von Personen einschränken, die im Zusammenhang mit dem Konflikt in Gaza protestieren", heißt es in dem offenen Brief, mit dem sich O’Flaherty am Donnerstag an Innenminister Dobrindt wendet.
Maßnahmen, die in die Freiheit der friedlichen Versammlung und der Meinungsäußerung eingriffen – außer in Fällen von Aufstachelung zur Gewalt oder der Ablehnung demokratischer Grundprinzipien – würden der Demokratie schaden und könnten sie sogar gefährden, heißt es weiter.
Der Europarat wurde 1949, unabhängig von der Europäischen Union, zum Schutz von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaat in Europa gegründet. Zum Europarat gehört auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Senat: 98,5 Prozent der angemeldeten Demos wurden durchgeführt
In Berlin kommt es immer wieder zu Protesten gegen den Krieg im Gazastreifen. Polizei und Senat sehen die Meinungsfreiheit durch das Handeln der Behörden nicht in Gefahr.
"Die Senatsverwaltung für Inneres weist die pauschalen und unzutreffenden Darstellungen, das Land Berlin würde die Meinungs- und Versammlungsfreiheit einschränken, entschieden zurück", schreibt die Senatsverwaltung für Inneres auf Nachfrage von rbb|24.
Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sei ein hohes rechtsstaatliches Gut, das sie schützen würden, hieß es weiter. Zwischen dem 07. Oktober 2023, dem Tag des Angriffs der Hamas auf Israel, und dem 15. Juni 2025 wurden in Berlin 1.569 Versammlungen im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt angezeigt. Lediglich 24 davon wurden von der Versammlungsbehörde verboten. "Somit konnten 98,47 Prozent der angezeigten Versammlungen durchgeführt werden", schreibt die Senatsinnenverwaltung.

Deutsch-Palästinensische Gesellschaft sieht Meinungsfreiheit verletzt
Verboten werden pro-palästinensische Proteste in der Regel nicht, dafür aber zuletzt mit teils starken Restriktionen belegt. Eine Demo durfte beispielsweise nicht als Aufzug starten, in einem anderen Fall wurde der Gebrauch der arabischen Sprache für Parolen verboten.
In einem Interview mit rbb|24 äußerte sich Nazih Musharbash, Präsident der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, kritisch gegenüber den Restriktionen. "Wenn die arabische Sprache kriminalisiert wird, wird die Identität der Araber infrage gestellt – das geht nicht. Menschen allein wegen ihrer Sprache oder Herkunft zu reglementieren, verletzt die Meinungsfreiheit", so Musharbash.
Protestforscher: Vorwürfe lassen sich empirisch belegen
Jannis Grimm forscht an der Freien Universität Berlin zu Protesten und Repressionen gegen Proteste. Grimm hat gemeinsam mit einem Team von Forschenden seit dem 7. Oktober 2023 Palästina-Solidaritätsproteste in den größten deutschen Städten Berlin, Köln, München und Hamburg analysiert.
Er erkennt bei der Meinungs- und Versammlungsfreiheit bei diesen Protesten besorgniserregende Tendenzen. "Wir beobachten, dass es starke Einschränkung in vielen Städten gab, insbesondere in Berlin."
Die Gruppe von Forschenden hat Daten zu den Protesten gesammelt und Interviews durchgeführt. "Vor dem Hintergrund unserer eigenen Forschung kann ich klar untermauern, dass man viele dieser Vorwürfe nicht einfach wegwischen sollte, denn an vielen dieser Vorwürfe ist durchaus etwas dran und das lässt sich empirisch belegen", so Jannis Grimm.
Dennoch mahnt er zur vorsichtigen Nutzung des Begriffs Meinungsfreiheit. Der Forscher betont, dass Meinung nie komplett frei sei, auch nicht in Deutschland. Dafür gebe es historische Gründe, so Grimm.
"In Deutschland ist zum Beispiel das Verwenden von verfassungsfeindlichen Symbolen strafbar. Man darf hier keinen Hitlergruß zeigen oder ein Hakenkreuz malen. Es gibt also durchaus begründete Einschränkungen von Meinungsfreiheit. Problematisch wird es dann, wenn die Proteste pauschal zur Projektionsfläche für Vorwürfe von Antisemitismis werden und wenn Redefreiheit auch dann eingeschränkt wird, wenn sie nicht eindeutig verfassungsfeindlich ist."
Vorwurf der Polizeigewalt
Die Berliner Polizei begleitet regelmäßig die pro-palästinensischen Demonstrationen in Berlin. Immer wieder werden Menschen bei den Protesten verletzt, auch durch die Polizei. Menschenrechtskommissar O’Flaherty greift das in seinem Brief auf. "Ich bin außerdem besorgt über Berichte über einen übermäßigen Einsatz von Gewalt durch die Polizei gegen Demonstrierende, darunter auch Minderjährige, was mitunter zu Verletzungen geführt hat."
Protestforscher Grimm kommt hier zu einem eindeutigen Ergebnis. "Die Intervention der Polizei bei Protesten ist teilweise sehr gewaltsam. Wir erleben teilweise sehr heftige physische Gewalt von Polizeibeamten." Die Anwendung des Schmerzgriffs durch die Polizei habe bei den Protesten der Klimaklebern der "Letzten Generation" noch für Aufsehen gesorgt. Mittlerweile sei der normalisiert, so Grimm.
Polizei: Verhältnismäßigkeit und Neutralität werden strengstens beachtet
In Hamburg sei die Polizei ähnlich häufig bei Protesten präsent wie in Berlin. Doch dort gebe es nicht dieses Ausmaß an Berichten über Gewalt und Zusammenstöße. "Wir sehen das sowohl in den empirisch quantitativen Daten, die wir gesammelt haben, als auch in den dutzenden Interviews, die wir mittlerweile geführt haben", so der Protestforscher. Der Trend sei für Grimm bereits erkennbar, auch wenn sich die Forschungsergebnisse aktuell im "Peer Review" befinden. Sie werden also aktuell noch von anderen Forschenden begutachtet. Anschließend werden die Ergebnisse publiziert.
Die Berliner Polizei weist die Vorwürfe auf Nachfrage zurück. "Die Maßnahmen der Polizei Berlin zum Schutz der Versammlungsfreiheit werden im Einklang mit dem Neutralitätsgebot durchgeführt und erfolgen stets auf der Grundlage des Versammlungsfreiheitsgesetzes Berlins sowie unter Beachtung der Grundrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit", heißt es in einem schriftlichen Statement. Das polizeiliche Vorgehen werde weiterhin unter strengster Beachtung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der gebotenen Neutralität erfolgen, so die Polizei Berlin.