Szene aus "Gestern zwar doch nicht vergangen" am 27.01.2025 im Berliner Ensemble.(Quelle:Ilse-Holzapfel-Stiftung/Laurence Chaperon)

Berlin Holocaust-Gedenken am Berliner Ensemble: "Was soll ich noch sagen?"

Stand: 28.01.2025 10:23 Uhr

Die Ilse-Holzapfel-Stiftung gedenkt mit einem neuen Theaterstück der Opfer des Nazi-Regimes. Der Abend lässt einen mit der Frage zurück, wie wir in Zukunft an die Shoah erinnern wollen. Von Barbara Behrendt

Drei kleine schwarze Tische stehen im Raum verteilt, daran schwarze Stühle, von denen viele leer bleiben – was man durchaus symbolisch verstehen darf. Die Tische stehen für drei Räume im Argentinien der 1960er Jahre: die Wohnung einer Ärztin und ihrer Tochter, ihr Sprechzimmer und die Wohnung eines Nazis, der 1948 auf demselben Schiff wie die jüdische Ärztin mit ihrer kleinen Tochter nach Südamerika gefahren ist.
 
"Gestern zwar, doch nicht vergangen" – das könnte das ewige Motto sein, im Bezug auf die Erinnerung an die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus. Es ist jedoch auch der Titel dieses neuen Theaterstücks von Alexander Pfeuffer, das anlässlich des internationalen Holocaust-Gedenktags am Berliner Ensemble in einer szenischen Lesung präsentiert wird.

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Nazi-Verbrecher in Argentinien

Es handelt von den Traumata, die die Generationen nach der NS-Zeit prägen. Ein Nazi-Verbrecher hat es mit der Hilfe von NS-Unterstützern ins Ausland geschafft und führt dort ein unbescholtenes Leben. Einer von vielen. Dieser Ingenieur, damals im Reichsverkehrsministerium verantwortlich für die Organisation der Züge in die Vernichtungslager, wird schwerkrank, und trifft die jüdische deutsche Ärztin wieder, mit der er schon auf der Überfahrt nach Argentinien aneinandergeraten war. Sie ist inzwischen eine Koryphäe auf ihrem Gebiet – er erpresst sie, ihn zu behandeln.
 
Während er noch immer überzeugt ist von dem, was er damals getan hat, und sich in Argentinien eine neue "deutsche Heimat" aufgebaut hat, wird sie jede Nacht von Albträumen geplagt: Sie ist wieder im Zug, der sie damals nach Theresienstadt deportiert hat. Beide haben ein Kind – junge Erwachsene, die Licht in die Vergangenheit ihrer Eltern bringen und gleichzeitig ihren eigenen Weg finden wollen.

Claudia Michelsen und Sylvester Groth

Claudia Michelsen gibt die jüdische Ärztin eindrücklich in aller Härte, die sich diese Figur abverlangt. Sylvester Groth dagegen scheint nicht recht zu wissen, wie er den Nazi-Verbrecher anlegen soll: als abgebrühten, überzeugten Mörder – oder als Schreibtischtäter, der die Verantwortung nur noch notdürftig verdrängen kann? Zwischen den gelesenen Szenen lässt die Regisseurin Leonie Rebentisch den Thüringer Philharmoniker Alexej Barchevitch traurig-düstere Geigenklänge spielen.
 
"Gestern zwar, doch nicht vergangen" ist der dritte Teil einer Trilogie. Die ersten beiden Stücke wurden ebenfalls am Holocaust-Gedenktag am Berliner Ensemble szenisch gelesen, auf Initiative der Ilse-Holzapfel-Stiftung. Die Kulturstiftung sorgt sich um die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus und ist Eigentümerin des Theaters am Schiffbauerdamm. Gegründet wurde sie vom Dramatiker Rolf Hochhuth, benannt ist sie nach seiner Mutter. Hochhuth löste in den 1960er Jahren mit seinem Doku-Stück "Der Stellvertreter" eine der größten Theaterdebatten der Republik aus. Es war das erste Stück, das sich mit der Haltung des Papstes zum Holocaust beschäftigte.

Didaktische Stücke zur politischen Aufklärung

Daran knüpft nun Alexander Pfeuffers Trilogie an. Die ersten Teile handeln von den Briefen, die verfolgte Juden in ihrer Verzweiflung während des NS-Regimes an den Papst geschrieben hatten. Und von den kirchlichen Fluchthelfern der Kriegsverbrecher über die sogenannte "Rattenlinie". Allesamt didaktische Stücke, die über die Vergangenheit aufklären wollen – geschrieben allerdings in einer altbackenen, gestelzten Sprache, mit der auch die Schauspieler:innen hin und wieder zu fremdeln scheinen.
 
Überhaupt kann man an diesem Abend ins Nachdenken geraten, wie eine angemessene Form des Erinnerns heute aussehen kann. Wolfgang Thierse, ehemaliger Bundestagspräsident, wirkte bei seinem Grußwort vorab ehrlich ratlos. Er habe gezögert, ob er überhaupt bei dieser Gedenkveranstaltung sprechen solle. "Was soll ich noch sagen? Es ist doch alles schon gesagt worden, auch von mir". Wie könne man gedenken, ohne in Gedenk-Routinen, ohne in Pathos zu geraten, denn: "Wir haben nicht das Recht, pathetisch zu sein".

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Wolfgang Thierse: Einschnitt in die Demokratiegeschichte

Und doch sitzt man nun wieder im Theater, die Luft voller pathetischer Geigenklänge, auf der Bühne ein Stück über geflohene Nazis in Argentinien in den 1960er Jahren – und ist hin- und hergerissen. Ja, es ist ungemein wichtig, diese Geschichten zu erzählen. Vor allem, wenn wir hören, dass zwölf Prozent aller jungen Menschen in Deutschland nicht wissen, was der Holocaust ist. Andererseits lässt sich mit dieser Geschichte aus den 1960er Jahren eben doch leicht so tun, als sei das alles höchstens bedingt mit unserer heutigen politischen Realität verknüpft.
 
Gut, dass Wolfgang Thierse zuletzt doch noch auf die Gegenwart zu sprechen kommt, wenn er sagt: "Vor vier Monaten haben wir einen Einschnitt in die deutsche Demokratiegeschichte erlebt. Bei drei Landtagswahlen haben die Wählerinnen und Wähler für einen drastischen Erfolg einer rechtspopulistischen, rechtsextremistischen Partei gesorgt. Noch niemals seit 1945 haben Rechtsextreme so viel und so gefährliche Macht erhalten. Und was wird am 23. Februar passieren?"
 
Welche Parallelen die Vergangenheit mit der Gegenwart hat, muss man an so einem Tag unbedingt thematisieren. Der Abend lässt einen mit der wichtigen und unbeantworteten Frage zurück, wie das Gedenken an die Shoa in Zukunft aussehen kann – ohne Pathos, ohne Gedenkroutinen.

Sendung: rbb24 Inforadio, 28.01.2025, 04:51 Uhr