
Berlin Medizinisches Cannabis auf Rezept – zwischen Therapie und Grauzone
Seit der Teillegalisierung ist medizinisches Cannabis leichter erhältlich. Doch während schwerkranke Patient:innen weiter gegen Vorurteile kämpfen, ist der Zugang auch per Mausklick möglich – oft ohne echte Diagnose. Von Juliane Kowollik
"Werde Cannabis-Patient:in in drei Minuten! Rezept für 0€, schnelle Lieferung, 100 % sicher und diskret." Mit solchen Versprechen wirbt die Plattform can-doc.de für den legalen Erwerb von verschreibungspflichtigem Cannabis. Über 50.000 Menschen sollen das Angebot nach Angaben der Plattform bereits genutzt haben.
Selbstversuch: Per Klick zur Diagnose
Spezielle Onlineplattformen bieten an, medizinisches Cannabis nach Hause zu versenden – ohne Wartezimmer, ohne Arztgespräch. Nach der Genehmigung des Rezepts - die Ausstellung erfolgt gegen Gebühr - wird das Cannabis diskret per Paketdienst geliefert.
Mit einem Kollegen mache ich einen Selbstversuch. Bevor wir zum offiziellen Patienten werden, müssen wir einige Fragen beantworten: In wenigen Minuten geben wir an, unter schweren langjährigen Schlafstörungen zu leiden. Halluzinationen oder Suchtprobleme? Verneinen wir. Ein Ausweisdokument zur Altersverifikation hochladen – fertig.
Einen Tag später halten wir das Privatrezept in den Händen. Ausgestellt über die Plattform von einem irischen Arzt, mit dem wir nie gesprochen haben. Rechtlich ist das gedeckt: Telemedizinische Verordnungen aus dem EU-Ausland sind zulässig. Doch ethisch haben viele deutsche Mediziner:innen Bedenken - ein fragwürdiger Grenzbereich.
Auch ein "Arztbrief" wird mitgeliefert, samt allgemeiner Angaben zu Dosierung und möglichen Nebenwirkungen. Die Sorten, die wir nun bestellen könnten, heißen "Wedding Singer" oder "Tiger Cake". Kostenpunkt: zwischen 8,50 und 12,70 Euro pro Gramm – frei Haus geliefert.
Oder wir gehen damit in eine reguläre Apotheke. Zum Beispiel zu Claudia Neuhaus nach Charlottenburg.
Für Apotheker ist die Überprüfung eines Rezepts schwierig
Für Apothekerin Neuhaus ist es Alltag – und ein Dilemma: Ob hinter einem Rezept eine echte medizinische Indikation steckt, ist für sie und ihr Team kaum zu erkennen.
"Wir als Apotheke sind gesetzlich verpflichtet, die Medikamente laut Rezept abzugeben. Wir können nicht jedes Rezept infrage stellen und die Ärzte und ihre Diagnosen überprüfen", sagt sie. Ihr geschultes Personal stelle aber gezielte Fragen, um den medizinischen Bedarf zumindest einzuschätzen. Bestehe der Verdacht des Missbrauchs, könne die Abgabe verweigert werden – das passiere allerdings sehr selten.
Seit der Gesetzesänderung habe sich die Nachfrage nach Cannabis in ihren Apotheken verdoppelt. Neuhaus ist es dennoch wichtig, dass medizinisches Cannabis für schwerkranke Patient:innen aus der "Schmuddelecke" herauskomme.

Patientin Wolke: "Durch Cannabis kann ich wieder mein Leben leben"
"Du wirst von Ärzten wie ein Junkie behandelt"
Das ist auch Cannabis-Patientin Wolke ein großes Anliegen. Die lebensfrohe Marzahnerin leidet an Multipler Sklerose und Spastiken, sie geht am Rollator. Keine andere Therapieform konnte sie von ihren starken Schmerzen befreien. Seit acht Jahren lindert sie ihre Schmerzen mit medizinischem Cannabis – verschrieben, legal, verdampft statt geraucht. "Das ist gesteigerte Lebensqualität. Durch Cannabis kann ich den Schmerzpegel runterfahren. Ich kann wieder mit Freunden rausgehen, Hobbys haben und mein buntes Leben leben", erzählt sie.
Doch der Weg dahin war schwer. Wolke hatte große Mühe einen Arzt zu finden, der ihr medizinisches Cannabis verschreibt. Sie erzählt von Mediziner:innen, die ihr unterstellten, die Rezepte weiterverkaufen zu wollen. "Das Schlimme ist, dass man diesen Stempel des Drogenkonsums hat. Du wirst von Ärzten wie ein Junkie behandelt." Sie kritisiert, dass viele Hausärzte das Thema Cannabis meiden und Schulungen eher ablehnen.

Hausärzte sind skeptisch beim Verschreiben von Cannabis
Unsere Stichprobe bestätigt die Skepsis. In einer Charlottenburger Hausarztpraxis heißt es: "Cannabis verschreiben wir prinzipiell nicht, wir haben damit keine Erfahrung und lehnen das immer ab". Auch Dr. Philipp Resmini, Schmerztherapeut in Lichtenberg, verschreibt fast nie Cannabis: "Es gibt nur wenige Menschen, denen das dauerhaft hilft, es gibt Nebenwirkungen. Wenn mich junge Männer ohne ersichtliche Krankheitsgeschichte nach Cannabis fragen, weiß ich, wo der Hase herläuft: Die wollen ihren Konsum auf Kosten der Krankenkassen finanzieren. Da mache ich nicht mit."

Das Gesetz mit der Lücke
Dabei ist das Problem wohl auch politisch. Der Suchtmediziner Dr. Konrad Cimander leitet das Kompetenzzentrum für Cannabis-Medizin in Hannover. Er betreut rund 700 Patienten – und sieht die Online-Rezepte kritisch. Die Plattformen nutzten ein Schlupfloch, weil das neue Konsumcannabisgesetz schlecht gemacht sei, sagt er. Es fehle die zweite Säule: lizensierte Fachgeschäfte, die wissenschaftlich begleitet medizinisches Cannabis an Privatkonsumenten abgeben.
"Cannabisblüten sind im medizinischen Bereich nur äußerst selten notwendig, man braucht sie höchstens in der Palliativmedizin. Die verordne ich fast nie. Tropfen wirken gezielter und machen nicht high. Saubere Blüten sollten in Geschäften für den Freizeitmarkt verkauft werden – nicht auf Rezept", sagt Cimander.

Fachgeschäfte für Freizeitkonsumenten fehlen
Solange es keine Fachgeschäfte gibt, bleibt das System anfällig. Gesunde Cannabisnutzer können sich über Onlineplattformen selbst eine Diagnose ausstellen – ADHS, Menstruationsschmerzen, Angststörungen - und bekommen ihr medizinisches Cannabis nach wenigen Klicks verordnet.
Die Privatrezepte zahlen sie allerdings selbst, bei der Krankenkasse können sie sie nicht einreichen. Für viele echte Patienten dagegen wird der Zugang zur Therapie weiterhin durch Vorurteile, bürokratische Hürden und ärztliche Skepsis erschwert.
Anmerkung der Redaktion: wir haben uns für diese Recherche lediglich das Rezept ausstellen lassen, danach haben wir die Bestellung abgebrochen.
Sendung: rbb24 Abendschau, 19.06.2024, 19:30 Uhr