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Berlin Schlaumeier und die Wunderlampe
Im Berlinale-Eröffnungsfilm "Das Licht" begibt sich eine Berliner Familie mit ihrer syrischen Haushälterin auf eine Selbstwerdungsreise. Regisseur Tom Tykwer treibt seinen Drang zum Esoterischen auf die Spitze - und scheitert dramatisch. Von Fabian Wallmeier
Alles passiert gleichzeitig - und alles hängt irgendwie mit allem zusammen. Das erzählt schon der Einstieg in Tom Tykwers "Das Licht", mit dem am Donnerstag die 75. Berlinale eröffnet worden ist. Die Parallelmontage der langen, von einem sanft vorantreibenden Streicherteppich untermalten Eröffnungssequenz zeigt die wohlstandverwahrloste Familie Engels, die groß-kleinbürgerlich in einer geräumigen Altbauwohnung mitten in Berlin lebt. Die vier leben dort zusammen, aber vor allem aneinander vorbei - und Tykwer greift beim Skizzieren dieser vier Parallelwelten tief in die Klischeekiste.
VR-Brillen-Einsamkeit und Party-Liebe
Mutter Milena (Nicolette Krebitz) fliegt oft nach Kenia, wo sie mit Ministeriumsgeldern einen Theaterbau plant, und ist auch in Berlin nur halb anwesend, weil sie ständig im Handy hängt. Vater Tim (Lars Eidinger) fläzt sich in einer Werbeagentur dauerknarzend auf dem Ledersofa und mansplaint dem Rest der Truppe die Welt. Die 17-jährige Frieda (Elke Biesendorfer) feiert und kuschelt sich zugedröhnt mit ihren Freund:innen durch das Berliner Nachtleben und quengelt den Eltern nur ihre Verachtung entgegen. Ihr Zwillingsbruder Jon (Julius Gause) bleibt derweil in seinem zugemüllten Zimmer und geht mit seiner VR-Brille in einem komplexen Computerspiel auf.
Währenddessen hat die polnische Haushälterin einen Herzinfarkt und bleibt stundenlang tot in der Küche liegen, bis die vier Egoman:innen sie schließlich entdecken. Und dann ist da noch Farrah (Tara Al-Deen), eine Syrerin, die mit anderen geflüchteten Frauen in einer Wohngemeinschaft lebt und eine geheimnisvolle Vergangenheit mit sich herum trägt. Später wird sie die Haushälterin der Engels - und alle mit einer seltsamen Art Wunderlampe therapieren, die dem Film wohl den Titel gibt: Mit geschlossenen Augen aufs Gesicht gerichtet kann dieses stroboskopisch zuckende Licht andere Bewusstseinszustände auslösen.
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Das Licht
Eidinger zieht blank
Es regnet. Und regnet. Und regnet. Ständig kommt Tim im triefenden Regenponcho zur Tür herein und tropft alles voll - oder reißt sich zu Hause gleich sämtliche Kleider vom Leib und läuft den Rest des Abends nackt durch die Wohnung. Wer das Klischee, dass Lars Eidinger darauf versessen ist, bei seinen Auftritten ständig blank zu ziehen, für überzogen hielt, wird hier keine Gegenargumente finden. Warum aber all dieser Regen? Das wird am Ende des Films klar - ein peinsam verkitschter, zeitgeistpolitischer und gleichmacherischer Kniff, der hier nicht verraten wird.
"Schlaumeier", sagt Tim einmal zu Farrah, als sie ihm erklärt, wie seine Familie funktioniert. Er meint das nett, aber auch ein bisschen spöttisch. Tatsächlich wird Farrah nach und nach zur schlaumeierhaften Vertrauten aller vier Familienmitglieder. Alle wollen mehr oder weniger, dass sich ihr Leben und Zusammenleben grundlegend ändert. Alle wollen sich selbst finden. Und alle offenbaren Farrah irgendwann in diesem Prozess ihre tiefsten Geheimnisse - oder werden sich dieser Geheimnisse erst im Gespräch mit ihr bewusst.
Farrah hat eine eigene Agenda
Doch hat Farrah eine deutliche eigene Agenda - die zu verraten wäre aber ein Spoiler, auch wenn man schnell durchschaut hat, worauf der Film da hinaus will. Nur so viel: Eine Art Geleit in einen anderen Zustand spielt eine Rolle, ausgelöst von Farrahs Wunderlampen.
Nicht nur Farrah ist ein Schlaumeier, sondern natürlich auch Regisseur und Drehbuchautor Tykwer. Einer, der alles mit allem verbindet - und dabei in diesem Fall komplett den Bogen überspannt. Übrigens auch was die Filmlänge angeht: Epische 162 Minuten dauert "Das Licht".
Die Verspieltheit ist abhanden gekommen
Das Esoterische lag Tykwer noch nie fern. Schon sein Durchbruchsfilm "Lola rennt", in dem Franka Potente in drei Variationen versucht, ihren Freund zu retten, war letztlich eine Versuchsanordnung über die Gleichzeitigkeit verschiedener möglicher Welten. Und in "Cloud Atlas" durchschreitet er, mit den Wachowski-Schwestern als Co-Regisseurinnen, mehrere Jahrhunderte, um übersinnliche Verbindungen aufzuzeigen.
Doch seine früheren Filme hatten bei aller Bedeutungsschwere und metaphysischen Aufgeladenheit auch immer eine lustvolle Verspieltheit. Die ist ihm nun abhanden gekommen. Kitschverliebt und selbstreferenziell durchschreitet er sein neues Großwerk.
Wie schwerfällig es dabei ächzt, zeigt sich nicht zuletzt in den Details: Der Lkw, der in "Der Krieger und die Kaiserin" noch in einer Verkettung von spielerisch inszenierten Zufällen Franka Potente niedermähte, damit aber auch ihrer großen Liebe zuführte, verschont dieses Mal die polnische Haushälterin. Doch kurz darauf nietet er den Billiglohn-Biker um, der Jon gerade sein Essen gebracht hat - und parallel dazu rafft sie in einer sinnlosen Wiederherstellung des kosmischen Gleichgewichts der Herzinfarkt dahin.
Is this the real life?
Und wo in "Lola rennt" noch ein paar Polaroids reichten, um schnell und gewitzt eine Figur zu charakterisieren zu werfen, quält Tykwer uns jetzt mit schwerfälligen, viel zu langen Musical-Tagtraumsequenzen. Ein "Bodycheck"-Lied röchelt Eidinger da etwa, um seinem Wunsch nach mehr Aufmerksamkeit von Milena Ausdruck zu verleihen. Ganz zu schweigen von Milenas unehelichem, nur jede zweite Woche bei den Engels lebendem, jüngeren Sohn Dio, der ständig "Bohemian Rhapsody" singt: Mit jeder, von Tykwer mit allen Mitteln des Kunstgewerbes ins Bild gesetzten Zeile kommentiert er grotesk überdeutlich das triste Treiben. "Is this the real life", heißt es in dem Lied gleich zu Beginn. Wollen wir es nicht hoffen.
Tom Tykwer ist zurück - nach neun Jahren, vor allem mit der Serie "Babylon Berlin" gefüllter, Kinopause - und mit dem ersten in Deutschland spielenden Film seit 15 Jahren (nach "Drei" von 2010. Ganz offensichtlich wollte er diese Wiederkehr mit einem allumfassenden Magnum Opus feiern. Das ist gründlich daneben gegangen. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen? Vielleicht, aber braucht es für diese Erkenntnis wirklich 162 Minuten Schlaumerei?