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Berlin Schulreform in Berlin: Nur noch mit der Note 2,2 oder Probetag ans Gymnasium
Berliner Sechstklässler erhalten am Freitag neben den Halbjahreszeugnissen auch eine Empfehlung für die Oberschule. Vor allem für Schüler, die aufs Gymnasium wechseln wollen und keinen Notendurchschnitt von 2,2 haben, gibt es Änderungen. Von Wolf Siebert
An der Orankesee-Schule in Berlin-Lichtenberg muss Schulleiter Guido Richter noch immer Fragen vieler Eltern von den aktuellen Sechstklässlern zum neuen Probeunterricht beantworten. Denn das novellierte Berliner Schulgesetz sieht seit diesem Jahr vor, dass beim Übergang von der Grund- zur Oberschule das Probejahr am Gymnasium entfällt. Stattdessen ist für Kinder ohne Gymnasialempfehlung erstmals ein Probeunterricht geplant. Dabei handelt es sich um einen Eignungstest, der am 21. Februar 2025 an jeweils einem Gymnasium pro Bezirk nach einheitlichen Kriterien stattfinden soll.

Grundsätzlich findet Richter es - genauso wie die Senatsbildungsverwaltung - richtig, das Probejahr am Gymnasium abzuschaffen: Denn mehr als jedes dritte Kind ist daran gescheitert. Eine Erfahrung, die belastet. Nach Auskunft der Senatsverwaltung für Bildung schafften besonders häufig Schüler, die eigentlich eine Empfehlung für eine integrierte Sekundarschule hatten, das Probejahr nicht.
Aber durch den neuen Probeunterricht, der aus einem dreistündigen Test in Deutsch, Mathe und Teamfähigkeit besteht, werde das nicht besser, sagt Schulleiter Richter. Er nennt ein Beispiel: Wenn im Deutsch-Test nach "Fabeln" gefragt werde, dann sollten eigentlich alle Kinder damit etwas anfangen können. "Theoretisch ist das auch so. Aber Schulen können ja eigene Schwerpunkte setzen, und wenn sie 'Fabeln' erst im 2. Halbjahr auf dem Plan haben, ist das in der Prüfung ein Problem."
Landeselternsprecher: Reform "mit heißer Nadel" gestrickt
Auch Landeselternsprecher Norman Heise kritisiert die Reform. Sie sei "mit heißer Nadel" gestrickt und hätte viel mehr Vorbereitungszeit gebraucht. Die Landeselternvertretung hatte deshalb empfohlen, erst 2026 mit der Umsetzung zu beginnen. Heise sagt auch, der Eignungstest übe auf die Sechstklässler zu viel Druck aus: "Für die Schüler kann der Test ziemlichen Stress bedeuten, zum Beispiel weil ein Schüler den Stoff nicht im Unterricht hatte oder weil er nun mit Schülern und Lehrern zusammen ist, die er nicht kennt – da kann man noch so resiliente Kinder haben, irgendwas kann immer quer liegen, was sich dann am Ende auf das Ergebnis auswirkt.“
Durch Probeunterricht weniger Schüler im Gymnasium?
Für Schulleiter Guido Richter, der auch Vorsitzender des Verbandes Berliner Grundschulleitungen ist, hat die Neuregelung weniger einen pädagogischen als einen juristischen Sinn: Sie sei die rechtliche Absicherung, dass sich die Zahl der Kinder an den häufig überlaufenen Gymnasien verringert.
So wie in Brandenburg. Fast 90 Prozent haben dort den "Probeunterricht" nicht bestanden. Nur noch wenige Eltern melden ihr Kind zum Probeunterricht an. Das kann auch andere Gründe haben. Möglicherweise unterstützen Eltern mit Gymnasialwunsch ihre Kinder zum Beispiel durch Nachhilfe, so dass sie den Notenschnitt 2,2 erreichen und nicht in den Probeunterricht müssen. Bisher galt die Regelung, dass Schülerinnen und Schüler mit einer Durchschnittsnote zwischen 2,3 bis 2,7 bei Empfehlung durch die Lehrer ein Probejahr am Gymnasium machen konnten. Diese Gruppe muss nun den Probeunterricht absolvieren.
Katharina Günther-Wünsch (CDU), die Berliner Schulsenatorin, widerspricht dem Vorwurf, die Reform solle in erster Linie die Gymnasien entlasten. Auf Anfrage des rbb teilt sie mit, Kinder und Jugendliche sollten damit möglichst passgenau gefördert werden. Im Mittelpunkt stehe "die Verbesserung der Bildungsqualität sowie die Konzentration auf Basiskompetenzen" wie Deutsch und Mathematik. Durch Abschaffung des Probejahrs würden auch unnötige Schulwechsel vermieden.
Das ist ja eine Entscheidung über die Zukunft meines Kindes. Ich habe aber kein wirkliches Mitspracherecht, der Elternwille scheint nicht wirklich zu zählen.
Viele Eltern aufs Gymnasium fokussiert
Grundschulleiter Guido Richter aus Lichtenberg sieht in der Reform aber auch eine Chance: Eltern nahezubringen, dass es für ihr Kind nicht unbedingt das Gymnasium sein muss: "Ich hoffe, dass dann die Sekundarschulen gestärkt werden, denn die ermöglichen ja auch den Weg bis zum Abitur. Und an den Sekundarschulen erleben Kinder weniger Leistungsdruck als an den Gymnasien. Gerade Kinder, die sich etwas später entwickeln und länger Zeit brauchen, profitieren von der etwas längeren Schulzeit."
Manche Sekundarschulen haben aber so viele Elternanfragen, dass sie als Zulassungsvoraussetzung einen Notenschnitt von 1,5 verlangen. So hat es Jana Kriening erlebt, die an diesem Tag in der Orankeseegrundschule erfahren wird, welchen Notendurchschnitt ihre Tochter hat. Und dann auch die "Förderprognose", also die Empfehlung der Grundschule für den weiteren Bildungsweg ihrer Tochter, bekommen wird. Bei der "Erstwunsch-Schule" hatte Frau Kriening kein Glück gehabt: "Nach der Absage wegen des Notenschnitts kommt man in ein Losverfahren. Und wenn man dann noch immer nicht genommen wird, dann hat man Pech gehabt. Dann muss man sich bei der Zweit- und Dritt-Wunsch-Schule bewerben. Das ist wie ein Teufelskreis und macht ziemlich Druck."
Der zweite Schritt der Reform: Die Förderprognose berücksichtigt nur noch drei Fächer
Mit der Reform des Schulgesetzes wird auch die "Förderprognose" selbst umgestaltet. Künftig werden in die Förderprognosen der Grundschulen nur noch Leistungen in den Fächern Deutsch, Mathe und der ersten Fremdsprache einbezogen. Gute Noten in Gesellschaftswissenschaften, musischen Fächern, Sport oder anderen Naturwissenschaften können dann den Notenschnitt nicht mehr ausgleichen.
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In dem neuen Modell sehen der Landeselternausschuss aber auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) eine "Selektion": Kinder aus bildungsfernen Familien hätten dadurch geringere Chancen, aufs Gymnasium zu kommen.
Für die 75 Sechstklässler der Orankeseeschule gilt aber noch das alte System. Mehr als die Hälfte wird eine Gymnasialempfehlung bekommen, nur drei werden Mitte Februar am Probeunterricht teilnehmen. "Familien, die begriffen haben, wie wichtig Bildung ist, wie wichtig Sprache ist, die schaffen in der Regel auch den Zugang zum Gymnasium", sagt Schulleiter Guido Richter.
Jana Kriening hat sich bereits entschieden: Ihre Tochter soll nicht aufs Gymnasium gehen – obwohl sie im letzten Schuljahr einen Notendurchschnitt hatte, der unter 2,0 lag. Aber Kriening glaubt, dass die Ansprüche am Gymnasium für ihre Tochter zu hoch sind. Deshalb hat sie sich für eine Gemeinschaftsschule im Bezirk entschieden. Dort kann ihre Tochter nach der 10. Klasse eine Empfehlung für die gymnasiale Oberstufe bekommen und dann an einer Partnerschule das Abitur machen. Dennoch ist Jana Kriening mit dem Berliner Schulsystem unzufrieden: "Das ist ja eine Entscheidung über die Zukunft meines Kindes. Ich habe aber kein wirkliches Mitspracherecht, der Elternwille scheint nicht wirklich zu zählen."
Sendung: rbb24 Inforadio, 30.01.2025, 08:20 Uhr