Blick auf ein mit Transparenten und Parolen versehenes besetztes Haus vermutlich um 1999 am Fränkleufer im Berliner Stadtteil Kreuzberg. (Quelle: Picture Alliance/Chris Hoffmann)

Berlin Warum es in der früheren Hausbesetzer-Hochburg Berlin heute keine illegal besetzten Häuser mehr gibt

Stand: 26.01.2025 08:04 Uhr

Einst galt Berlin als Hausbesetzer-Hochburg. Viele leerstehende Altbauten wurden illegal besetzt und jahrelang bewohnt. Einer der Gründe: die Wohnungsnot. Die gibt es heute wieder, Besetzungen aber nicht. Der Historiker Hanno Hochmut erklärt, warum.

rbb|24: Hallo Herr Hochmuth. Wo gibt es derzeit besetzte Häuser in Berlin?
 
Hanno Hochmuth: In Berlin gibt es heute fast überhaupt keine besetzten Häuser mehr. Die besetzten Häuser, die es noch gibt, sind ehemalige Haus-Projekte aus dem Beginn der 90er Jahre, die inzwischen legalisiert worden sind. Die also mit ordentlichen Verträgen ausgestattet wurden.

Es gibt also faktisch kein einziges wirklich besetztes Haus?
 
Ich weiß aktuell von keinem illegal besetzten Projekt, das nicht mit einem Duldungs- oder Mietvertrag versehen wäre.

Wann gab es in Berlin Ihres Wissens zuletzt ein besetztes Haus, in dem die Menschen illegal und längerfristig lebten?
 
Die letzten richtigen Hausbesetzungen, die ohne Vertrag und ganz ohne die Zustimmung von Vermietern oder Besitzern stattfanden, gab es eigentlich alle im Jahr 1990. Die bekannten Fälle, in denen es in jüngerer Zeit Auseinandersetzungen gab – wie in der Rigaer Straße oder der Liebigstraße im Nordkiez in Friedrichshain – sind Überbleibsel aus dieser Zeit. Da haben allerdings in den letzten 30 Jahren die Hauseigentümer gewechselt. Dort haben die neuen Hausbesitzer die Nutzungs- und Duldungsverträge der früheren Hausbesitzer kassiert. Die Haus-Projekte wollten aber nicht gehen. Deshalb kam es wieder zu Auseinandersetzungen um besetzte Häuser. Es handelte sich dabei aber nicht um frisch besetzte Häuser.

Woran liegt es, dass keiner mehr frisch Häuser besetzt? Wohnungsnot gibt es ja auch aktuell.

 
Es gibt heutzutage noch Wohnungsnot und es gibt auch noch spekulativen Leerstand. Aber es gibt eine Zutat nicht mehr, die ganz wichtig ist für die vielen Hausbesetzungen in den 80er Jahren in West-Berlin und die nach Mauerfall, Anfang der 90er Jahre im Ostteil der Stadt: das ist massiver Leerstand aufgrund von ausbleibender Sanierung. Um es salopp zu sagen, es gibt keine leerstehenden Bruchbuden mehr. Es gibt keine leerstehenden Altbauten mehr in Berlin. Sondern wir haben eine weitestgehend durchgentrifizierte Stadt heute. Man könnte es auf die Formel bringen: seit der Gentrifizierung gibt es auch keine Hausbesetzungen mehr. Denn die Hausbesetzungen standen am Anfang der Gentrifizierung.

Mit welcher vorrangigen Absicht sind die damaligen Hausbesetzer denn in die verfallenden Häuser eingezogen?
 
Da gab es ganz verschiedene Motive in den 80er Jahren. Im Prinzip ging es schon 1971 in West-Berlin los. Damals war es vor allem das politische Motiv, autonome Räume für Jugendliche zu gewinnen, die aus ihren Elternhäusern flohen.
 
Etwa zehn Jahre später ging es schon um ein ganz anderes Motiv. Viele, die der Wohnungsnot in West-Berlin entgehen wollten, wussten, dass es massenweise leerstehende Häuser gab, die ewig lang auf ihre Sanierung warteten. Da sind die Leute reingegangen und viele von ihnen wurden von Haus- zu Instandbesetzern. Das heißt, sie richteten diese Wohnungen in Marke Eigenbau wieder her. Deshalb bekamen sie dann auch oft Nutzungsverträge.
 
In der Hausbesetzerbewegung gab es immer zwei Pole. Es gab einerseits die, die die Besetzung als autonomes politisches Anliegen gegen den Kapital-Staat, gegen die Eigentümer und gegen den Senat sahen. Ihnen ging es auch um Freiräume und neue Wohn- und Lebensformen. Und es gab auch immer die pragmatischeren Hausbesetzer, die günstigen Wohnraum haben wollten, den sie sonst nirgends kriegten. Diese Gruppe war immer eher an Legalisierungen und Verträgen interessiert. Sie wurde von der anderen Gruppe ganz stark verachtet, weil sie mit dem Establishment paktierte.

Ich weiß aktuell von keinem illegal besetzten Projekt, das nicht mit einem Duldungs- oder Mietvertrag versehen wäre

 
 
Ist es den Instand-Besetzern mitzuverdanken, dass heute noch viele Altbauten in West-Berlin stehen?
 
Die Instand-Besetzer haben seit Ende der 70er Jahre sehr stark dazu beigetragen, dass die alte Berliner Mietskaserne rehabilitiert und wiederentdeckt wurde. In den 60er bis in die frühen 70er Jahre gab es in West-Berlin den festen Plan, einen Großteil der gründerzeitlichen Altbau-Substanz komplett abzureißen und durch moderne Sozialbauten mit Licht, Luft und Sonne zu ersetzen. Weil die Altbauten schon leergezogen waren, aber Ewigkeiten auf ihren Abriss warteten, sind sie besetzt worden.
 
Die Hausbesetzer haben mit einigen konservativen Stadtplanern und mit der evangelischen Kirche und noch ein paar anderen Playern gemeinsam die Altbauten gerettet. Sie haben mit dazu beigetragen, dass sie doch im Zuge der "behutsamen Stadterneuerung" saniert wurden. Diese Häuser sind heute der begehrteste Wohntyp in ganz Berlin. Das wussten die Hausbesetzer damals natürlich noch nicht. Aber sie waren gewissermaßen die Pioniere der Gentrifizierung – und dann später ihre ersten Opfer.

Viele ehemalige Hausbesetzer, das haben Sie schon erwähnt, sind längst Mieter oder gar Eigentümer der Objekte. War das denn damals absehbar?
 
Es wurde schon früh geunkt, dass aus Hausbesetzern später Hausbesitzer werden. Aber diese Frage war in der Hausbesetzer-Bewegung, die immer sehr heterogen war, sehr umstritten. Es gab einige, die das partout ablehnten und die auch sehr stark die Auseinandersetzung mit dem Staat, also der Polizei, und auch den Eigentümern suchte. Die zweite, eher pragmatische Gruppe – die Instand-Besetzer – achtete schon sehr früh darauf, möglichst auch selbst in den Häusern bleiben zu können.

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Die von Ihnen genannten Auseinandersetzungen zwischen Hausbesetzern und dem Staat fanden ja außerordentlich gewaltvoll statt. Wären beispielsweise derart eskalierende Räumungen wie damals heute noch denkbar?
 
Solch gewaltsame Räumungen, wie wir das Beispielsweise 1981 in West-Berlin hatten, wo es große Auseinandersetzungen auf der Potsdamer Straße und mit Klaus-Jürgen Rattay tatsächlich auch ein Todesopfer gab, oder auch 1990 in der Mainzer Straße in Friedrichshain, wären heute kaum denkbar. Das liegt auch daran, dass sich die ganze Stadt extrem verändert hat. Es gibt einerseits nicht mehr die Bedingungen für Hausbesetzungen heute, es gibt aber auch das Milieu nicht mehr. Ein paar Leute halten zwar immer noch daran fest und die Slogans und Forderungen nach Freiräumen klingen ähnlich wie damals – sie wirken aber auch oft sehr stark aus der Zeit gefallen.

Zudem haben Polizei und Senat heute ganz andere Konfliktlösungsstrategien. Damals musste man neu mit dieser Situation umgehen und es gab noch keine Deeskalationsansätze. Das musste erst noch gefunden und entwickelt werden. So wie die "Berliner Linie der Vernunft". Die zwar einerseits besagte, dass besetzte Häuser innerhalb von 24 Stunden sofort wieder geräumt werden mussten – damit sich da nichts verstetigt und etabliert. Eine solche Räumung konnte aber nur stattfinden, wenn der Eigentümer ein Räumungsbegehren und gleichzeitig einen Sanierungsplan vorlegen konnte. Das zeigt, dass die Hausbesetzer-Geschichte sehr stark mit der Sanierungsgeschichte gekoppelt war. Die Sanierungsfrage jedoch ist eine historische Frage. Heute ist die ganze Stadt – die Altbauten zumindest – komplett durchsaniert.
 
Vielen Dank für das Gespräch.
 
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24