Das Projekt "Zweitzeugen" ist zu Gast in einer Schule in Bochum im Jahr 2023 (Quelle: imago images/Ralf Rottmann).

Berlin "Zweitzeugen"-Projekt an Schulen: Holocaust für Kinder und Jugendliche erfahrbar machen

Stand: 02.02.2025 12:39 Uhr

Den Holocaust für Kinder und Jugendliche erfahrbar machen und so die Erinnerungen lebendig erhalten: Das ist das Ziel des Vereins "Zweitzeugen e.V.". Ksenia Eroshina erzählt, wie Viertklässler mit der Schoah umgehen und das Erlebte weitertragen.

rbb: Frau Eroshina, bevor Sie eine soegannte Zweitzeugin sein können, brauchen Sie einen Erstzeugen. Wie läuft das?
 
Ksenia Eroshina: Wir haben mittlerweile 38 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Holocaust interviewt. Wir werden häufig zu den Menschen nach Hause eingeladen und es ist nicht so, dass man sofort über die NS-Zeit und die traumatischen Erlebnisse spricht. Meist ist da erstmal ein riesiger Tisch voller Essen. Bei Chava Wolf gab es zum Beispiel Couscous und Nussecken. Man wird dann gefragt: Sag mal, warum isst du nicht noch mehr? Das sind Fragen, die man von den Großeltern kennt: Wann heiratest du? Wann kommen die Kinder? Das ist ganz anders, als man sich das vielleicht vorstellt. Aber natürlich sprechen wir mit den Menschen auch über ihre Erlebnisse während der NS-Zeit und Aufenthalte in Konzentrationslagern.

Es ist unvorstellbar, dass Holocaust-Überlebende darüber reden und psychisch klarkommen. Wie ist das für Sie?
 
Ich versuche mir immer wieder bewusst zu machen - und bespreche das auch mit den Kindern und Jugendlichen, mit denen ich arbeite -, dass wir nur die Geschichten von jenen Menschen hören, die die Kraft gefunden haben, darüber zu sprechen und sich ein neues Leben aufzubauen. Was ausbleibt, sind die Geschichten der Menschen, die diese Kraft nicht gefunden haben und daran zerbrochen sind.
 
In unserer Ausstellung widmen wir diesen Menschen ein stummes Porträt und thematisieren, dass es auch Menschen gibt, die an diesen Erfahrungen und diesen Traumata zerbrochen sind.

Mit diesem angeeigneten Wissen gehen Sie in Schulen. Wie läuft das ab?
 
Wir gehen schon ab der vierten Jahrgangsstufe in Schulen - also schon zu den ganz Kleinen, was vielleicht erst mal ein bisschen komisch wirken kann. Tatsächlich ist es aber so, dass die Kinder ganz viele Fragen mitnehmen und teilweise auch viel mehr wissen, als wir uns vorstellen. Manchmal sind das natürlich Wissenfetzen oder gefährliches Halbwissen, aber genau da setzen wir an. Wir ordnen und sortieren dieses Vorwissen und bereiten die Kinder und Jugendlichen darauf vor, das Herzstück eines jeden Zweitzeugenprojektes kennenzulernen: die Geschichte eines Überlebenden. Wir wollen die Kinder mit diesen sehr persönlichen Geschichten emotional erreichen. Es sind Geschichten von Verlust, Trauer, aber auch Tod. Daneben wollen wir auch das Wissen über die NS-Zeit fördern. Wir wollen die Kinder und Jugendlichen dazu befähigen, selber zu Zweitzeugen zu werden.

In der vierten Klasse sind die Kinder noch sehr klein. Weint da jemand und müssen Sie trösten?
 
Wir versuchen, die Geschichten und das Thema sehr kindgerecht und behutsam zu vermitteln. Aber natürlich sind das hoch bewegende, emotionale Geschichten. Es kommt vor, dass Kinder sehr traurig sind. Aber vor allem empfinden sie oft ein Ungerechtigkeitsgefühl. Nicht selten kommt es vor, dass sie wirklich aufstampfen und sagen: Wie kann so etwas vor meiner Haustür passiert sein - in dem Land, in dem ich heute lebe, von dem ich denke, wir leben in einer Demokratie?

Das ist ein Effekt, den Sie auch wollen. Sie möchten, dass sich die Kinder und Jugendlichen dann auch engagieren.
 
Wir wollen Kinder und Jugendliche befähigen und motivieren, sich in ihrer heutigen Lebenswelt gegen Antisemitismus, Diskriminierung, aber vor allem für eine demokratische und vielfältige Gesellschaft einzusetzen. Das kann beim Weitererzählen der Geschichte an Geschwister oder Eltern beginnen. Und das kann in einer selbstorganisierten Gedenkveranstaltung an der eigenen Schule oder in der eigenen Stadt münden. Wir haben Schüler:innen, die gemeinsam Online-Ausstellung organisieren.

Gruppenausstellung "Roma Lepanto". (Quelle: Stiftung Kai Dikhas/Moritz Pankok)
"Ich fing an, all die Vorurteile zu glauben und meine Identität zu leugnen"
Sinti und Roma wurden von den Nazis verfolgt und ermordet. Die Künstlerin Luna de Rosa hat erst vor wenigen Jahren davon erfahren, obwohl ihr Vater Rom ist. In ihrer Kindheit wandte sie sich von ihrem Roma-Hintegrund ab - bis sie dazu zurückfand.mehr

Wir leben in Berlin nicht in einer homogenen Masse, sondern mit vielen Geflüchteten. Begegnen Ihnen bei den Kindern und Jugendliche auch Anfeindungen gegen jüdische Menschen?
 
Wir erleben, dass eigentlich alle Kinder sehr offen sind, wenn es um eine persönliche Lebensgeschichte geht. Das hat auch etwas Hochspannendes, mehr über eine Person zu erfahren. Aber natürlich gibt es auch Vorbehalte und rassistische, antisemitische Äußerungen. Genau da wollen wir ansetzen. Wir versuchen immer, allen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeiten zu geben, etwas aus den Geschichten für ihre Lebenswelt mitzunehmen. Ganz häufig erkennen sich gerade Kinder mit eigener Flucht- oder Migrationserfahrungen in den Geschichten wieder. Wir erleben, dass sie sagen: Auch ich habe erlebt, was es bedeutet, aus dem eigenen Land vor Krieg und Verfolgung zu flüchten. Oder: Auch ich weiß, was es heißt, aufgrund meiner Religion oder Herkunft, diskriminiert oder ausgegrenzt zu werden. Wenn die Kinder das von sich aus thematisieren, bietet das einen schönen Gesprächsraum.

Es kommt vor, dass Kinder sehr traurig sind. Aber vor allem empfinden sie oft ein Ungerechtigkeitsgefühl.

Richtig schlimmer Antisemitismus ist ihnen also noch nicht begegnet?
 
Wenn es zu antisemitischen Vorfällen oder Sprüchen kam, war das immer etwas, womit man gut arbeiten und das auch auflösen konnte. Das sind ja häufig noch nicht gefestigte Ansichten, sondern Sprüche, Ideen, Narrative, die die Kinder und Jugendlichen von Social Media oder von zu Hause aufschnappen und nachplappern.

Besucherinnen und Besucher informieren sich am 16.03.2023 am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas zwischen Reichstag und Brandenburger Tor im Berliner Bezirk Mitte (Quelle: dpa/SZ Photo/Olaf Schülke)
"Es gibt ein gewisses Alltagswissen. Aber das hat seine Grenzen"
Gut jeder zehnte junge Erwachsene in Deutschland hat laut Umfrage noch nie etwas vom Begriff Holocaust gehört. Wie diese Wissenslücken zu beurteilen sind und wie wichtig Wissensvermittlung ist, erklärt der Historiker Ernst Piper.mehr

Wie funktioniert das Projekt und was arbeiten dort für Menschen?
 
Wir haben über einhundert ehren- und hauptamtliche Mitarbeitende. Das Projekt ist als reines Ehrenamt gestartet. Mittlerweile haben wir aber auch Hauptamt, das unterstützt. Wir sind wirklich motiviert, etwas zu bewegen in der Gesellschaft. Wir gehen gerne an Schulen und arbeiten mit Kindern und Jugendlichen. Es gibt aber auch Personen, die in unserem Ausstellungsteam an didaktischen Konzepten feilen, sich um Fundraising kümmern oder Kommunikationsarbeit machen. Es sind ganz unterschiedliche Menschen und alle eint, dass sie diese Vision und Mission des Vereins teilen und vorantreiben wollen.

Wie kann man bei Ihnen mitmachen?
 
Wer Interesse und Lust hat, sich bei uns zu engagieren, ist immer herzlich willkommen. Wir vermitteln dann an die jeweiligen Teams - je nachdem, wo vielleicht Unterstützung gebraucht wird. Wir suchen Personen aus allen möglichen Sparten - ob Sie nun gut schreiben oder gut mit Kindern und Jugendlichen arbeiten können.

Das Interview mit Ksenia Eroshina führte Ingo Hoppe für rbb 88,8.
 
Der Text ist eine redigierte und gekürzte Fassung. Das komplette Gespräch können Sie im Audio-Player nachhören.

Sendung: rbb 88,8, 27.01.2025, 18:10 Uhr