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Brandenburg Interview | Holocaust-Gedenken: "Es gibt ein gewisses Alltagswissen. Aber das hat seine Grenzen"
Gut jeder zehnte junge Erwachsene in Deutschland hat laut Umfrage noch nie etwas vom Begriff Holocaust gehört. Wie diese Wissenslücken zu beurteilen sind und wie wichtig Wissensvermittlung ist, erklärt der Historiker Ernst Piper.
rbb|24: Herr Piper, die Jewish Claims Conference [www.claimscon.org] hat untersucht, was Menschen in acht Ländern der Begriff Holocaust sagt. In Deutschland wissen 12 Prozent der 18- bis 29-Jährigen nichts mit dem Begriff anzufangen. 40 Prozent geben an, nicht zu wissen, dass sich die Anzahl der vom NS-Regime ermordeten Juden auf sechs Millionen beläuft. Wie beurteilen Sie diese Wissenslücken?
Ernst Piper: Ich könnte mir vorstellen, dass bei solchen Umfragen die Leute sagen: "Oh, das ist so ein abstrakter Begriff, da weiß ich nicht so genau Bescheid." Sie haben Angst davor, dass sie etwas Dummes sagen.
Wenn man ihnen andere Fragen stellen würde, ob sie vielleicht schon mal was von Anne Frank gehört haben zum Beispiel, würden vielleicht schon wieder andere Antworten kommen. Und ich glaube auch, dass man einfach bedenken muss, dass mit wachsendem zeitlichen Abstand unsere Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus und seinen Verbrechen sich auch wandelt.

Ich gebe Ihnen ein konkretes Beispiel: Ich war mal in Los Angeles im Holocaust Museum. Da gibt es die üblichen Dinge zu sehen und auf Bildschirmen sieht man Überlebende, die ihre Geschichte erzählen. Da war ich der einzige Besucher. In Los Angeles gibt es auch ein "Museum of Tolerance", das vom Simon Wiesenthal Center betrieben wird. Da waren Tausende von Leuten. Dort wird auch über die NS-Zeit gesprochen, aber eben unter etwas anderen Vorzeichen. Und ich glaube, es ist auch bei uns heute so, dass man nicht ständig über den Holocaust, dafür aber über gegenwartsbezogene Themen wie Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit spricht.
Sind die Wissenslücken vielleicht gar nicht so groß, wie sie aufgrund dieser Umfrage erscheinen mögen?
Auf jeden Fall würde ich davor warnen, sie zu dramatisieren. Es gibt ein gewisses Alltagswissen. Aber das hat seine Grenzen. Viele Jüngere antworten bei Tests zum Beispiel, Adenauer sei ein DDR-Politiker gewesen. Aber es gibt meines Erachtens doch ein großes Bewusstsein für Themen wie den Antisemitismus unter jungen Leuten. Und es fahren jedes Jahr mindestens 500.000 Menschen in die Gedenkstätte Dachau. Und das ist nur eine, besonders bekannte Gedenkstätte zur NS-Zeit von insgesamt 1.000.
Immer weniger Zeitzeugen sind noch am Leben. Inwiefern erschwert das die Vermittlung dieser dunklen Epoche an die Nachwelt?
Es liegt in der Natur der Sache, dass irgendwann niemand mehr am Leben ist, der damals dabei war. Das muss die Vermittlung nicht erschweren, es gibt heute viele mediale Möglichkeiten, die Erzählungen der Zeitzeugen weiterhin kennenzulernen. Zeitzeugen sind wichtig. Die Rekonstruktion der Realgeschichte ist aber nicht ihre Aufgabe, dafür gibt es die historische Forschung. Die Zeitzeugen sind nicht für die Außen-, sondern für die Innenansicht des Geschehens zuständig. Holocaust-Überlebende haben dabei vielleicht eine etwas größere Bedeutung als Zeitzeugen anderer historischer Ereignisse. Das Geschehen in der Hölle von Auschwitz übersteigt jedes menschliche Vorstellungsvermögen. Und da kann es hilfreich sein, wenn jemand darüber spricht, der es selbst er- und überlebt hat.
Sie helfen uns, das Unbegreifliche zu begreifen. Marian Turski, der Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees hat gesagt, es ist eben unsere Aufgabe, dieses Zeugnis weiterzugeben, wenn seine Generation nicht mehr da ist. Aber es gibt ja vielfältige mediale Möglichkeiten: Man kann Bücher lesen, es gibt eine große Fülle von sehr eindrucksvollen Berichten. Allein die Survivors of the Shoah Visual History Foundation von Steven Spielberg hat über 50.000 Videointerviews mit Überlebenden gemacht.
Die Vorsitzende des Berliner Geschichtslehrerverbandes beklagt, dass an vielen Schulen nur höchstens eine Stunde pro Woche Geschichtsunterricht vorgesehen ist oder Geschichte nur im Verbund mit Politik und Ethik unterrichtet wird. Welche Auswirkungen beobachten Sie bei Ihren Studenten durch diese Bildungspolitik?
Der Geschichtsunterricht ist schon seit Jahrzehnten unter Druck. Und er ist in den letzten Jahren noch mehr unter Druck geraten. In den Corona-Jahren hat man den Unterricht auf die Kernfächer konzentriert. Das sind die Fächer, die für die Pisa-Studien relevant sind, und da gehört Geschichte nicht dazu. Aber auch schon, als ich studiert habe, das ist jetzt 50 Jahre her, gab es solche Werke wie das "Studienbuch Geschichte". Die Herausgeber sind davon ausgegangen, dass auch angehende Geschichtsstudenten im Allgemeinen ohne Vorwissen an die Universität kommen. Das kann ich aus meiner Unterrichtspraxis nur bestätigen. Die Weimarer Republik, aus der Sicht der Geschichtswissenschaft eine wichtige Epoche, nicht nur als Vorgeschichte des Nationalsozialismus, kommt in den meisten Bundesländern überhaupt nicht mehr vor im Schulunterricht.

Es gibt ja dieses geflügelte Wort, das in etwa lautet: "Wer aus der Geschichte nichts lernt, ist dazu verdammt, sie immer zu wiederholen." Was ist Ihrer Meinung nach zu befürchten, wenn das Wissen um die Verbrechen der NS-Diktatur verloren geht.
Ich sehe nicht, dass Wissen da verloren geht. Auch wenn von 84 Millionen Deutschen viele nicht genau Bescheid wissen, geht das Wissen nicht verloren. Es ist nur nicht bei allen vorhanden, das ist ja ein großer Unterschied. Die Frage ist eben immer: Wo begegnet es uns? Wo hat es mit uns, mit unserem Alltagsleben etwas zu tun? Und da gibt es zum Beispiel Einrichtungen, wie die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, die viel Zeit und Kraft investiert, um auf sozialen Medien wie TikTok der ganzen Desinformation von Rechts etwas entgegenzusetzen.
Es gibt sehr wirkmächtige Desinformationskampagnen, wenn etwa die Vorsitzende einer rechtsextremen Partei öffentlich erklärt, Hitler sei ein Kommunist gewesen. Und dann glaubt man, sich mit einem solchen Blödsinn beschäftigen zu müssen, weil die Urheberin eine Person mit großer Reichweite ist. Es gibt starke Kräfte, die Desinformationskampagnen betreiben. Die kommen nicht nur aus Russland zu außenpolitischen Themen, sondern auch von sehr aktiven rechtsextremen Kreisen hierzulande. Da dagegenzuhalten, ist heute viel anstrengender als früher, weil wir heute mit einem unendlichen Strom an Informationen konfrontiert sind.
Da den Überblick zu behalten und seriöse von unseriösen Informationsangeboten zu unterscheiden, überfordert viele Menschen. Aber das Wissen geht deshalb nicht verloren. Es gibt Dokumentationszentren, Gedenkstätten, Bücher, großartige Dokumentarfilme, erfolgreiche Spielfilme. Wer wirklich etwas wissen will, hat jede Möglichkeit, sich zu informieren, auch niederschwellig.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview mit Ernst Piper führte Frank Drescher, rbb24 Abendschau.
Sendung: rbb24 Abendschau, 23.01.2025, 19:30 Uhr