Spielszene aus "Gatsby!": Die Darsteller tragen 20er-Jahre-Kostüme, das Publikum, mittendrin, trägt weiße Halbmasken.

Sachsen "Gatsby!" in Görlitz – Theatererlebnis erweckt die 20er-Jahre zum Leben

Stand: 12.05.2025 13:49 Uhr

"Der große Gatsby", F. Scott Fitzgeralds Gesellschaftsroman von 1925, kennen die meisten sicher als Hollywood-Film mit Leonardo DiCaprio. Am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau nähert man sich dem Stoff nun mit einem Theatererlebnis, bei dem das Publikum mittendrin ist im Geschehen. Es ist die letzte Inszenierung von Intendant Daniel Morgenroth vor seinem Abschied. Sein "Gatsby!" sei ein Glücksfall für alle, die dabei sein dürfen, findet unser Kritiker.

Von Wolfgang Schilling, MDR Kulturdesk

Immersives Theater ist eine Spielform, bei der die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum verschwindet und das Publikum Teil der Geschichte wird. Es taucht ein in die Handlung, ist mittendrin im Geschehen. Man könnte von einem interaktiven Theatererlebnis sprechen. Allerdings nicht in dem Sinne, dass das Publikum aktiv in das Spiel eingreifen würde, dem Ablauf sozusagen eine jeweils ganz eigene Wendung geben könnte.

Als Publikum ins New York der goldenen 20er-Jahre eintauchen

Spielort ist das Kema-Gelände am Rand von Görlitz. Eine alte, seit Jahren leerstehende Maschinenfabrik aus der Gründerzeit. Hier wird das Publikum schon eine Stunde vor Beginn von einer Heerschar weißgekleideter Bediensteter empfangen. Sie alle tragen auf der Brusttasche ihrer edlen Outfits das Signet JG – kleiner Hinweis auf den Gastgeber des Abends: Jay Gatsby.

Alle Zuschauerinnen und Zuschauer bekommen eine weiße Halbmaske, so eine, wie sie das Phantom der Oper trägt, und einen farbigen Jeton ausgehändigt. Man trifft sich im Hof der Fabrik, wo ein Springbrunnen sprudelt und man sich ein Getränk, einen New York Style Hotdog oder Sandwich kaufen kann. Willkommen auf Long Island und im Jahr 1925.

Spielszene aus "Gatsby!": zwei Darsteller in 20er-Jahre-Kostümen sprechen, es sieht aus wie eine Filmkulisse eines Hinterhofs

Als immersives Theatererlebnis ermöglicht die Inszenierung "Gatsby!" das Eintauchen in das New York von 1925.

Nick Carraway, der Ich-Erzähler des Buches, respektive sein Darsteller, Jonte Volkmann, begrüßt das Publikum, zieht es hinein in die Geschichte, den Geist ihrer Zeit, die Roaring Twenties, die wilden 20er-Jahre. Eine Klatschreporterin begrüßt die illustren Gäste einer Party vor dem Traumschloss des großen Gatsby. Es sind die Protagonisten des Abends, die kurz winken und im Gebäude verschwinden.

Und auch das Publikum, wird ihm versprochen, darf dabei sein. Wenn es seine Masken aufsetzt und verspricht, da drinnen kein Wort zu sagen, egal was passiert, dann dürfen alle als unsichtbare Gäste teilnehmen. Drei Eingänge gibt es. Und je nach der Farbe des Jetons – Rot, Grün oder Weiß – sucht man sich den seinen. Das immersive Spiel beginnt.

Ein Glücksfall für jeden, der dabei sein darf. Wolfgang Schilling, MDR KULTUR-Theaterkritiker |

Filmkulissen mit Pool und Ballroom: Görlywood lässt grüßen

Der Bühnenbildner Damian Hintz hat mit den Technikern des Hauses, mit den Ausstatterinnen und Kostümbildnerinnen Nadine Baske und Christina Sieber und dem Lichtdesigner Uwe Bittner nahezu Unglaubliches geleistet. Zusammen lassen sie das Long Island der 1920er-Jahre auferstehen. Sie haben in die alte Fabrik ein sich über mehrere Etagen ziehendes Filmset eingebaut. Man landet in einem perfekten Ballroom mit Bar und Live-Jazzband. Hier darf man die Maske mal abnehmen, etwas trinken, tanzen, zu sich kommen.

Außerhalb, wo die Masken unbedingt wieder aufgesetzt werden müssen, nimmt die Geschichte ihren Lauf, in stilecht und ohne Kompromisse nachgebauten Locations. Da gibt es eine Autowerkstatt, einen Wintergarten mit wassergefülltem Pool. einen unterirdischen See, Büroräume, ein Hotel sowie Interieurs von High-Society-Villen.

All das durchläuft man staunend. Das maskierte Publikum trifft dabei immer mal wieder auf unmaskierte, stilecht gekleidete Personen, die zum Beispiel in der Poolhalle die amerikanische Nationalhymne singen. Nebenan in der Autowerkstatt besprechen einige der Protagonisten etwas – man ahnt, hier geht es um teure Autos und die Frau des Mechanikers, die ihren Mann offenbar mit einem der Millionärskunden betrügt.

Spielszene aus "Gatsby!": Zwei Schauspieler mit 20er-Jahre-Kostümen sitzen an einer Bar.

Wie in einem Filmset landet das Publikum während des Abends in verschiedenen Kulissen, zum Beispiel in einem Ballroom mit Bar und Live-Jazzband.

Inszenierung blättert durch den Roman von F. Scott Fitzgerald

Immer wieder gibt es solche kurzen Szenen, wie beiläufig zwischen den Schauspielerinnen und Schauspielern abgehandelt, mitten unter den Zuschauenden, die etwas verstehen können oder nicht. Man macht sich seinen Reim auf das Gesehene, versucht den Personen zu folgen. Entweder man schafft das oder verliert sich im Gewühl, um plötzlich in eine ganz andere Situation einzutauchen. Man kann an jedem Ort verweilen und abwarten, was hier passiert. Man kann die Taktik ändern und versuchen an einer Person dranzubleiben. So erlebt man stückchenweise seinen Teil der Geschichte dieses Abends.

Es ist, als ob man sich durch den Roman von F. Scott Fitzgerald blättert. Sich mal da kurz festliest und dann die Seiten weiter durch die Finger rauschen lässt. Das geht zweieinhalb unterhaltsame Stunden so. Das Ballett tanzt immer mal wieder dazwischen. Die Damen und Herren des Opernchores präsentieren in unterschiedlichsten Formationen Songs aus der Zeit. Ein Wimmelbild, das das Publikum körperlich und geistig auf Trab hält.

Spielszene aus "Gatsby!": Drei Schauspieler mit 20er-Jahre-Kostümen sitzen an einem Tisch vor gemusterter Tapete, als ob drei Millionäre etwas Wichtiges besprechen.

"Gatsby!" ist wie ein großes Wimmelbild, das das Publikum körperlich und geistig auf Trab hält.

Mosaik eines großartigen Theaterabends

Das Ensemble ist vom Regisseur Daniel Morgenroth offensichtlich angehalten, mit geradezu filmischem Realismus zu spielen. Hier tönt keiner, Wirkung entsteht auch, wenn das Publikum im Raum nicht alles versteht. Es gibt die großen Partyszenen im Ballroom, aber eben auch die ganz intimen. Wo zwei sich ihre Liebe gestehen und das Publikum auf Tuchfühlung um sie herumsteht.

Das kann sich ins Absurde steigern. Etwa wenn die tragische Frauenfigur des Abends, die von der jungen Martha Pohla großartig gespielte Daisy Buchanan, in größter Aufwühlung ihrer Gefühle auf ihr heimisches Sofa zurückkehrt. Doch genau dort, wo sie sich jetzt hinzusetzen hat, haben bereits zwei Zuschauerinnen Platz genommen und spielen eine Partie Dame. War ja gerade alles leer hier im Raum. Nun ist es plötzlich voll. Und die Darstellerin quetscht sich zwischen sie und gibt ihrer zu Herzen gehenden Verzweiflung Ausdruck. Tragik und Komik auf Tuchfühlung. Die Damen ziehen sich zurück, das Publikum schmunzelt und ist zugleich ergriffen.

Spielszene aus "Gatsby!" - Es ist Nacht, eine Frau mit typischem 20er-Jahre-Kostüm trifft sich mit einem Mann, sie sprechen vertraulich, sie legt ihm eine Hand auf seine Schulter.

Laut Kritiker Wolfgang Schilling ist der immersive Theaterabend ein gesellschaftliches Ereignis. Es gab tosenden Applaus.

Es ist einer von vielen kleinen Momenten, die am Ende so das Mosaik eines großartigen Theaterabends entstehen lassen. Der dann, nicht ganz zufällig, das Publikum und alle Darsteller zum blutigen Finale am Swimmingpool zusammenführt. Tosender Applaus für ein Stadttheater-Ensemble, das spartenverbindend über sich hinauswächst. Ein immersives Theatererlebnis wird zum gesellschaftlichen Ereignis. Ein Glücksfall für jeden, der dabei sein darf. 

Weitere Informationen zur Inszenierung

"Gatsby!"
Immersives Theatererlebnis von Daniel Morgenroth nach dem Roman "Der große Gatsby" von F. Scott Fitzgerald

Wo
Kema-Gelände Görlitz
Pomologische Gartenstraße
02826 Görlitz

Nächste Vorstellungen:
18., 22., 23., 24. Mai, 19:30 Uhr
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten ohne Pause
Für die meisten Vorstellungen gibt es nur noch Restkarten.

Es gibt zusätzliche Late Night Veranstaltungen im "Fitzgerald's", dem Swing Club auf dem Kema-Gelände.

Redaktionelle Bearbeitung: jb