Vor dem Berliner Reichstag wehen die Fahnen der Europäischen Union, der Bundesrepublik Deutschland und die Regenbogenfahne (Symbolbild) (Quelle: imago images/Virginia Garfunkel)

Brandenburg Berlin Schwule und die AfD: Es ist kompliziert

Stand: 13.02.2025 09:31 Uhr

Welchen Parteien hängen sexuelle Minderheiten an? Die Umfrage einer schwulen Dating-App sieht die AfD weit vorn. Eine Studie zum Wahlverhalten queerer Menschen kommt zu einem völlig anderen Ergebnis. Widersprüche offenbart das kaum. Von Oliver Noffke

27,9 Prozent für die AfD. Eine Umfrage der Dating-Plattform Romeo, die vor allem von schwulen und bisexuellen Männern genutzt wird, sorgt für Schlagzeilen. Das Ergebnis wurde mehrfach als "schockierend" bezeichnet. Hin und wieder schwangen Unverständnis oder eine gewisse Ratlosigkeit in der Berichterstattung mit. Wieso wählen Schwule gegen ihre eigenen Interessen? So der Tenor.
 
Innerhalb der in Teilen rechtsextremen Partei wurde das Resultat recht verschieden aufgenommen. Einige Landesverbände berichteten auf ihren Seiten - offenbar nicht ohne Stolz: "Umfragehammer: AfD unter Schwulen stärkste Kraft". Von anderen kam nicht mehr als dröhnendes Schweigen.
 
Das Problem ist nur: Anhand dieser Umfrage lässt sich kaum ablesen, ob schwule Männer tatsächlich in großen Teilen die AfD wählen würden. Und falls doch: Wäre das wirklich erstaunlich? Ist die AfD überhaupt eine schwulenfeindliche Partei?

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Viele Teilnehmer, kaum belastbares Ergebnis

60.560 Menschen haben sich in der Zeit vom 24. Januar bis zum 2. Februar an der Umfrage beteiligt, berichtet Romeo [romeo.com]. Eine außerordentlich hohe Zahl für eine Wahlumfrage. Trotzdem kann dieses Ergebnis nicht repräsentativ für das politische Meinungsbild unter Schwulen in Deutschland stehen.
 
So waren etwa mehrfache Abstimmungen nicht ausgeschlossen. Bildungsabschlüsse oder die Art der Beschäftigung wurden nicht abgefragt. Beides ist bei repräsentativen Wahlumfragen Teil der Fragebögen, um die tatsächlichen Verteilung innerhalb der Bevölkerung möglichst genau nachzustellen. Genau wie die Frage: Sind Sie wahlberechtigt? In welchem Umfang verschiedene Altersgruppen in die Romeo-Umfrage eingeflossen sind, orientierte sich ebenfalls nicht an realen Verhältnissen. Es ergab sich schlicht aufgrund des Rücklaufs. Und nebenbei: Wie verlässlich sind Altersangaben auf Dating-Plattformen eigentlich grundsätzlich?
 
Romeo ist insbesondere in Deutschland weit verbreitet. Ein schwules Einwohnermeldeamt ist die Plattform jedoch nicht. Es gibt diverse Konkurrenten, die zum Teil ein anderes Publikum ansprechen. Einzige Bedingungen für die Teilnahme waren ein Romeo-Profil und die Angabe, sich in Deutschland aufzuhalten.

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"Von der Umfrage selbst, halte ich nicht viel. Ganz einfach weil die Daten schlecht sind", sagt Patrick Wielowiejski. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität Berlin forscht er zu dem Verhältnis zwischen Geschlecht, Sexualität und Populismus. Die Romeo-Umfrage sei vor allem eine Art PR-Gag, sagt er. "Die hat wirklich keine Aussagekraft."
 
Das Ergebnis dieser Umfrage lässt sich deshalb wie folgt zusammenfassen:
 
Bei einem nicht-repräsentativen Online-Poll unter einem Teil der schwulen und bisexuellen Männer, die angaben sich in Deutschland aufzuhalten, gingen 27,9 Prozent der Stimmen an die AfD.
 
Das ist keine belastbare Grundlage für Aussagen wie: Mehr als ein Viertel der Schwulen würde AfD wählen.

Aber...

"Gleichwohl ist dieses Phänomen, dass schwule Männer AfD wählen, schon erklärungsbedürftig", so Wielowiejski, "ganz unabhängig von den Zahlen." Denn eines offenbart die Umfrage. Schwul sein und eine rechte, nationale oder ausländerfeindliche Gesinnung zu haben, schließt sich nicht aus. Das Wahlprogramm der AfD tut das bei genauer Betrachtung auch nicht unbedingt.
 
"Die AfD ist keine schwulenfeindliche Partei, sondern eine queerfeindliche Partei", sagt Wielowiejski. Was die Partei ablehne, sei etwa die Vorstellung, dass das Geschlecht nicht unbedingt biologisch vorgegeben ist, sondern ein Spektrum darstellt. Oder dass sexuelle Orientierung komplizierter sein kann. "So lange schwule Männer und lesbische Frauen dem ebenfalls nicht zustimmen, können sie auch in die AfD integriert werden."
 
Schwule Rechtsextreme? Neu wäre ein solches Phänomen ohnehin nicht.

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Emanzipation war nie der einzige Weg

Ende des 19. Jahrhunderts nahm in Deutschland die erste Homosexuellenbewegung Fahrt auf. 1897 wurde in Berlin das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) gegründet, das die Öffentlichkeit über Homosexualität aufklären wollte und sich gegen die bestehenden Strafgesetze einsetzte. Etwa den Paragraphen 175 [antidiskriminierungsstelle.de]. Eines der Gründungsmitglieder des WhK war Magnus Hirschfeld, der nach dem Ersten Weltkrieg unweit des Tiergartens das Institut für Sexualwissenschaft gründete.
 
Die Ärzte und Psychiater des Instituts beschäftigten sich mit der Beschreibung von Homosexualität, Schwangerschaftsverhütung, den Bedürfnissen von Müttern, der Behandlung von sexuell übertragbaren Krankheiten, Psychotherapien für Paare, auch die ersten erfolgreichen geschlechtsangleichenden Operationen wurden durchgeführt. Hirschfeld und das Institut stellen für die Emanzipation Homosexueller einen frühen Meilenstein dar.
 
Parallel dazu existierte eine andere Strömung unter homosexuellen Männern. Eine, die nicht den bestehenden Rang der Geschlechter infrage stellte, sondern maskuline "Männerhelden" verehrte und Frauen als schwach ansah oder offen verachtete. Die sich mit dem Nationalismus, Militarismus und Antisemitismus des frühen 20. Jahrhunderts identifizierte. Schwule Männer, die glaubten, ihre Wertvorstellungen würden durch den aufkommenden Nationalsozialismus nicht infrage gestellt.
 
Einer der berüchtigtsten und extremsten unter ihnen war Ernst Röhm. Der Stabschef der paramilitärischen NSDAP-Kampforganisation Sturmabteilung (SA) war Anhänger von Adolf Hitler und maßgeblich an der Machtübernahme beteiligt. Sein Weltbild deckte sich weitestgehend mit dem der Nationalsozialisten. Bei den Moralvorstellungen war das Verhältnis jedoch komplizierter.
 
In der NSDAP gab es nicht wenige, denen Röhms Homosexualität egal war. Andere sahen darin eine Gefahr für die NS-Ideologie. Sie waren der Ansicht, die Partei würde als schwach oder verkommen wahrgenommen. Im Sommer 1934 wurden Röhm und andere aus der SA-Führung auf Befehl von Hitler festgenommen und zum Teil hingerichtet. Offiziell wurde die Aktion als Abwehr gegen den Putschversuch einer Clique von Homosexuellen dargestellt [dhm.de].

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Gemeinsamer Nenner: Muslimfeindlichkeit

Auch heute ist innerhalb der schwulen Community beides zu finden. Nur ist wenig über die genaue Verteilung bekannt. Einerseits progressive Schwule, die sich für eine vielfältige Gesellschaft einsetzen und die Rechte von lesbischen, transgeschlechtlichen Menschen und anderen sexuellen Minderheiten insgesamt als selbstverständliche Fortführung ihrer eigenen Emanzipation begreifen. Und sich als Teil einer queeren Community begreifen, statt einem reinen Männerclub zuzurechnen.
 
Und andererseits gibt es Homosexuelle, in deren Welt nur Platz für zwei Geschlechter vorhanden ist. Denen queer sein zu woke ist. Und die der Meinung sind, nur heterosexuelle Paare sollten Kinder erziehen dürfen. Gleiche Rechte bei Ehe oder Adoption können bei solchen Einstellungen schnell überflüssig erscheinen.
 
Wichtiger seien andere Themen, sagt Wielowiejski. "Es handelt sich um Leute, bei denen das Narrativ verfängt, dass Geflüchtete, migrantische Jugendliche und vor allem muslimische Männer eine besondere Gefahr für schwule Männer darstellen." Diese Angst könne auch Menschen überzeugen, die den autoritären Politikstil von Rechtspopulisten eigentlich ablehnen. "In der Wahrnehmung der eigenen Bedrohungslage nimmt dieses Islam-Argument aber möglicherweise einen zentralen Platz ein."

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Der AfD kann das nützlich sein. Sie kann sich als Schützerin europäischer Werte inszenieren. Schließlich werden Homosexuelle in den Herkunftsländern vieler Geflüchteter tatsächlich verfolgt. "Diese Argumentation von rechtspopulistischen Parteien kennen wir in Westeuropa seit den frühen 2000er Jahren", so Wielowiejski.
 
Für die Aufnahme von queeren Migrant*innen aus diesen Ländern setzt sich die AfD allerdings nicht ein. Diese Vereinnahmung der Ziele und Forderungen sexueller Minderheiten für nationalistische Ziele wird heute mit Homonationalismus beschrieben [bpb.de].
 
Schwieriger zu navigieren ist die AfD für Homosexuelle, die Kinder haben. Das AfD-Wahlprogramm definiert Familie explizit als "Vater, Mutter, Kind" – und widerspricht damit dem Lebensmodell der eigenen Kanzlerkandidatin. Alice Weidel zieht mit ihrer Partnerin, die aus Sri Lanka stammt, zwei Kinder groß [mdr.de]. Weidel selbst betont stets, sie sei nicht queer, sondern homosexuell.

Wissenschaftliche Studie sieht AfD bei 5,3 Prozent

Es gibt homosexuelle Männer, die eine rechte oder rechtsextreme Einstellung haben. In Frankreich, Österreich, den Niederlanden, weiteren europäischen Staaten sowie den USA ist dies in jüngster Zeit ebenfalls beschrieben worden. Das Interesse von anderen sexuellen Minderheiten an der AfD scheint allerdings eher gering.
 
Eine wissenschaftliche Studie zum Wahlverhalten queerer Menschen kommt zu dem Ergebnis, dass von denen, die angaben AfD zu wählen, 70 Prozent Männer waren. Die übrigen 30 Prozent verteilen sich auf lesbische Frauen, trans- oder intergeschlechtliche und andere Queere. Allerdings gaben nur 2,8 Prozent der insgesamt 6.320 Befragten an die AfD zu wählen [uni-giessen.de].
 
Runtergebrochen auf die 1.926 schwulen Männer, die teilgenommen haben, ergibt sich ein Wert von 5,3 Prozent für die AfD. 45,3 Prozent würden Bündnis 90/Die Grünen wählen, gefolgt von der SPD (11,7 Prozent).
 
Diese Studie ist ebenfalls nicht repräsentativ, wie die beteiligten Wissenschaftler*innen schreiben. "Da die Grundgesamtheit unbekannt ist."

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Breite Spanne bei unklarer Zusammensetzung

Niemand weiß genau wie viele schwule Männer es gibt. Wie viele Frauen lesbisch sind, wie viele Menschen bisexuell, non-binär oder transgender. Oder wie viele Männer Sex mit anderen Männern haben, sich aber selbst niemals als schwul, bi oder queer bezeichnen würden. Sexuelle Identität ist – aus gutem Grund – keine statistische Größe, sondern persönliche Erfahrung.
 
Die Studie geht davon aus, dass es in Deutschland 1,8 bis 3 Millionen wahlberechtigte LGBTIQ*-Wahlberechtigte leben. Eine recht breite Spanne bei zudem unklarer Zusammensetzung. Das ist eine unmögliche Ausgangslage, um eine repräsentative Umfrage erstellen zu wollen.
 
Sie würden demnach etwa drei bis fünf Prozent der Gesamt-Wahlberechtigten ausmachen [destatis.de]. Schwule Rechtsextreme sind also eine Minderheit innerhalb einer Minderheit. Und trotzdem: "Ich finde, die symbolische Bedeutung der Romeo-Umfrage ist nicht zu unterschätzen", sagt Patrick Wielowiejski. "Aber inwiefern das tatsächlich ins Gewicht fällt, kann niemand sagen."
 
Was die Gießener Studie aber deutlich zeigen kann, ist, was den Teilnehmenden bei ihrer Wahl wichtig ist [uni-giessen.de]. Bildungs- und Gesundheitspolitik sowie Rechtsstaatlichkeit wurden von den meisten genannt, gefolgt von Homofeindlichkeit, dem Wohnungsmarkt und Diskriminierung. Migrations-, Asyl- und Flüchtlingspolitik – die Karte, auf die die AfD hauptsächlich setzt - war das zwölftwichtigste Thema unter den Befragten.
 
Wie die meisten queeren Menschen, haben auch viele Schwule offensichtlich ganz andere Probleme.