
Brandenburg Berlin Angst vor Rache: Weshalb viele Opfer nicht vor Gericht aussagen wollen
Wer eine Straftat zur Anzeige bringt, muss oftmals später vor Gericht aussagen. Das macht vielen Opfern oder Zeugen Angst. Denn dort begegnen sie den Tätern - und müssen alle ihre Daten für die sichtbar angeben. Das gilt sogar für Kinder. Von Sabine Priess
Der 13 Jahre alte Tom (*Name geändert) ist im vergangenen Jahr in Berlin von einer Gruppe Jugendlicher "abgezogen" worden. Soll heißen: Die Täter bedrängten ihn und nahmen ihm sein Geld weg. Nun soll Tom vor Gericht gegen sie aussagen.
Davor hat der Junge große Angst. Er fürchtet, dass die Jugendlichen, die in seinem Kiez leben, sich an ihm rächen könnten. "Ich setze keinen Fuß ins Gericht", sagt Tom zu seinen Eltern. Den drohen dann jedoch unangenehme Folgen. Versäumt Tom den Gerichtstermin, kann das Gericht ein Ordnungsgeld von bis zu 1.000 Euro verhängen – und zwar für jeden einzelnen Gerichtstermin. Zudem könnte angeordnet werden, dass Tom "vorgeführt" - also von der Polizei abgeholt und zwangsweise zum Gericht gebracht wird.

Von der Anzeige bis zum Gericht
Wer belästigt, bestohlen, körperlich angegriffen oder in anderer Weise Opfer oder Zeuge einer Straftat wird, sollte das – wie Toms Eltern – im besten Fall bei der Polizei anzeigen. Das ist längst online und verhältnismäßig einfach möglich. Nur so können Täter überhaupt gefasst werden.
Viele Betroffene sind sich nicht bewusst, dass sie – sollte es durch ihre Anzeige zu einem Strafverfahren kommen – mit großer Wahrscheinlichkeit als Zeuge vor Gericht aussagen müssen. "Viele Opfer denken, mit der Aussage bei der Polizei sei alles getan. Wenn es dann nach einem halben Jahr oder Jahr zu einem Gerichtstermin kommt, wollen viele da nicht hin", sagt Oliver Hetmanek von der Berliner Opferhilfe. Doch glaubwürdige und vollumfassende Zeugendaten und -aussagen sind für eine etwaige Verurteilung unabdingbar. Carsten Milius vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) sagt, es handele sich dabei eigentlich um "eine Errungenschaft des Rechtsstaates". Schließlich solle jemand, der einer Straftat beschuldigt wird, wissen, was ihm vorgehalten wird – und wie die Strafverfolgungsbehörden zu ihren Erkenntnissen kommen. Das sei Teil eines "fairen Verfahrens", habe jedoch auch Nachteile, so Milius, da Name und Anschrift des Opfers genannt werden müssten.
Die Personalien des Opfers unterliegen der Wahrheitspflicht von Zeugen im Strafverfahren. Von ihren Aussagen kann es am Ende entscheidend abhängen, ob ein vom Gericht gefälltes Urteil richtig und rechtsgültig ist.
Viele Opfer denken, mit der Aussage bei der Polizei sei alles getan. Wenn es dann zu einem Gerichtstermin kommt, wollen viele da nicht hin.
Offenlegung persönlicher Daten ein Risiko für Zeugen?
Zeugen müssen also physisch zum Termin vor Gericht erscheinen und zunächst ihren Namen, ihr Geburtsdatum, ihre Anschrift und ihren Beruf angeben. "Das gilt auch für Kinder und Jugendliche und selbst für Polizisten, die als Zeugen aussagen", kritisiert Milius. Das ärgert ihn und seine Kollegen. Denn die Polizei lege intern auf den Schutz von Daten äußerst viel Wert und sie selbst stießen bei Ermittlungen und beim Einholen von Auskünften immer wieder an die Grenzen des Datenschutzes, so der Kriminalbeamte.
Doch es geht nicht allein um die Sicherheit von Daten. Nadine Antoinette Kramer, Strafverteidigerin und Opferanwältin aus Berlin, berichtet von der Angst vieler Opfer. "Für viele ist die Vorstellung schwierig, dass sie jetzt als Zeugen aussagen müssen und dabei auch auf den Täter treffen. Ich kann die Sorgen gut nachvollziehen."
Diese Ängste würden genährt von "Fernsehserien und Filmen, in denen Täter Rache ausüben und die Polizei nicht hilft", erklärt Oliver Hetmanek von der Berliner Opferhilfe. Das sei insbesondere nachvollziehbar, wenn Opfer sich mit den Tätern einen Kiez oder beispielsweise Schulwege teilten. "Das hören wir aber nicht nur von Kindern und deren Eltern, sondern auch von erwachsenen Zeugen", so Hetmanek. "Diesen Menschen können wir sagen, dass sie in den allermeisten Fällen nichts zu befürchten haben."
Welche Zeugen besonders gefährdet sind
Es sei dennoch nicht so, dass nie etwas passiere, sagt Oliver Hetmanek. Es gäbe Gruppen, die etwas gefährdeter seien. Das seien Betroffene von Beziehungstaten, Kindschaftsstreitigkeiten oder beispielsweise Stalking-Handlungen - alles Fälle, wo die Daten den Tätern hinlänglich bekannt sein dürften. Auch wenn ein Täter eine psychiatrische Diagnose habe, wisse man mitunter nicht, ob man die Zeugen hundertprozentig schützen könne, so der Experte der Opferhilfe.
Und: "Je mehr man sich in den Bereich der organisierten Kriminalität bewegt, umso mehr wird Einfluss genommen. Das können Gewaltandrohungen oder -anwendungen sein – es kann aber auch sein, dass einem Zeugen Geld für sein Schweigen geboten wird", sagt Polizist Milius. Doch auch der Kriminalbeamte sagt, es sei im Regelfall glücklicherweise so, dass Täter sich – wenn sie durch die polizeilichen Ermittlungen aus der Anonymität geholt werden – zurückhalten.
Doch Milius räumt ein, dass die Polizei die Bedrohung von Zeugen nicht immer mitbekomme: "Im Prinzip kennt fast jeder Kollege Fälle, wo man während der Ermittlungen durch Zeugen zu einem recht eindeutigen Ermittlungsergebnis kommt. Und dann sagt der Zeuge vor Gericht plötzlich, die Polizei habe ihn falsch verstanden. Er habe das so nie gesagt." Beweisen könne man eine Bedrohung oder Bezahlung des Zeugen aber dann meistens nicht.
Kürzlich, so der Kriminalbeamte, habe es in einem brisanten Fall in Berlin zufällig entstandene Videoaufnahmen eines unbeteiligten Dritten gegeben. Als der Inhaber der Kamera mitbekommen habe, dass er im Besitz von Aufnahmen ist, die polizeibekannte Personen belasten könnten, habe er diese "vorauseilend" der Polizei nicht zur Verfügung gestellt. "Er hat in etwa gesagt: Egal, was wir ihm androhen würden deshalb, das, was von diesen Personen kommen könnte, wäre schlimmer".

Wie Täter an Daten von Zeugen gelangen
Mitunter werden Zeugen tatsächlich bereits vor der Verhandlung bedroht - also bevor sie dort ihre Daten öffentlich nennen müssen. "Die Beschuldigten kommen an alles, was ein Opfer oder Zeuge bei der Polizei sagt", erklärt Polizist Milius. Sobald eine Aussage in der Ermittlungsakte vermerkt sei, könne der Anwalt des Beschuldigten alles einsehen – "und es auch an seine Mandanten weitergeben". Milius berichtet, dass bei Durchsuchungen immer wieder komplette Kopien von Ermittlungsakten gefunden würden. Darin stehe alles, was ein Zeuge der Polizei gesagt hat. "Die Personalien, die Telefonnummer, das Geburtsdatum, wo jemand wohnt – und gegebenenfalls sogar die Lage der Wohnung".
Rechtsanwältin Kramer sagt: "Mitunter versuchen mutmaßliche Täter Kontakt aufzunehmen, um sich zu entschuldigen und das Opfer zu bitten, die Strafanzeige zurückzuziehen." In selteneren Fällen komme es zu direkten Drohungen. Die wenigsten Straftäter hätten jedoch am Ende Interesse, Muße oder die Energie, "Zeugen hinterherzurennen", betont Carsten Milius. Und Schließlich gelte jede Einwirkung auf Zeugen als sogenannte Verdunklung und sei ein Haftgrund.
Es gibt Schutzmaßnahmen für Zeugen
Der Kriminalbeamte rät trotz seines Unmuts hinsichtlich der Daten dazu, Straftaten immer anzuzeigen, da die Polizei nur dann auch tätig werden könne. Dabei sei es durchaus möglich, nicht die eigene, sondern eine andere ladungsfähige Anschrift anzugeben, beispielsweise die eines Vereins wie der Opferhilfe - auch vor Gericht.
Wer sich vor dem Gerichtstermin Sorgen mache, könne zudem die Polizei kontaktieren, um eine Gefährderansprache der Täter zu erwirken. Solche Ansagen zeigten oft Wirkung und verhinderten Bedrohungen, sagt Oliver Hetmanek von der Opferhilfe. Zusätzlich gibt es Unterstützungsmöglichkeiten wie die psychosoziale Prozessbegleitung. Die hilft besonders Kindern und Jugendlichen, Ängste abzubauen und sich auf die Aussage vorzubereiten.
Rechtsanwältin Kramer betont, Opfer könnten sich – bei bestimmten schweren Straftaten sogar kostenlos – eines Rechtsbeistandes bedienen. "Das wissen viele Menschen nicht." Dennoch bleibt die Aussage für viele Opfer eine große Belastung. Oliver Hetmanek von der Opferhilfe verweist darauf, dass sie auch heilsam sein könne. "Es kann hilfreich sein, seine Stimme zu erheben. Denn als Opfer ist man sonst erst einmal vor allen Dingen ein Beweismittel."
Zu erreichen, dass man gar nicht vor Gericht vernommen wird, ist fast unmöglich
Am Ende bleibt die Aussage Zeugen-Pflicht
Ist die Situation zu belastend und ein Zeuge kann den Gerichtstermin aus psychischen Gründen nicht wahrnehmen, sollte er sich das unbedingt von einem Arzt attestieren lassen und dann bei Gericht einen Antrag stellen, gar nicht oder in Abwesenheit des Angeklagten vernommen zu werden. Allerdings sei gar nicht vernommen zu werden fast unmöglich, berichtet Anwältin Nadine Antoinette Kramer.
Für Tom bedeutet das: Er muss wohl vor Gericht erscheinen, sein Gesicht zeigen und sein Name und seine Daten werden den Beschuldigten offengelegt. Einen Trost hat Polizist Milius aber doch für den 13-Jährigen. Er betont, dass die kriminelle Energie im Rahmen von Jugendgruppengewalt sich "verhältnismäßig in Grenzen" halte. Zudem sei es in solchen Fällen üblich, dass die Rechtsanwälte der Angeklagten darum bemüht seien, dass ihre Mandanten die Zeugen in Ruhe lassen - zumindest bis zum Urteil.