
Brandenburg Berlin Bundestagswahl 2025: "Viele werden die Parteien nicht wegen, sondern trotz ihrer Kandidaten wählen"
Vor der Bundestagswahl 2025 prasselt eine Flut von Meinungen, Slogans, Bildern und Videos auf Wählende ein. Politikwissenschaftler Stefan Marschall erklärt im Interview, was die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger wirklich beeinflusst.
rbb|24: Herr Marschall, wie hat sich die Entscheidungsfindung bei den Wählerinnen und Wählern seit der Bundestagswahl 2021 verändert?
Stefan Marschall: Wir hatten bei der Wahl 2021 eine stärkere Zugkraft der Personen. Scholz war damals ein Zugpferd für seine Partei, Armin Laschet hat die Union dagegen eher nach unten gezogen.
Bei dieser Wahl wird wieder intensiver auf Themen geschaut und wir sehen themenbezogen eine stärkere Polarisierung in der politischen Öffentlichkeit. Die aktuelle Zeit ist sehr krisengeschüttelt. Wir haben nicht nur die Folgen der Corona-Krise, die 2021 noch im Mittelpunkt stand, sondern jetzt kommen der Krieg in der Ukraine und seine Auswirkungen dazu, wir sehen die bedrohliche Situation im Nahen Osten. Zudem sind wir konfrontiert mit einer Präsidentschaft in den USA, die unberechenbar ist.
Das alles schafft Unsicherheit, und die Suche nach Orientierung erhält eine größere Bedeutung. Mehr Menschen schauen besorgt auf das politische Geschehen und interessieren sich politisch wieder stärker. Das sehen wir auch am Wahl-O-Mat, der bis jetzt schon sehr stark nachgefragt worden ist. Alles in allem rechne ich auch mit einer hohen Wahlbeteiligung. Genauso wie 2021 haben wir allerdings auch noch viele Unentschlossene.
2021 stand die Bundestagswahl im Zeichen der Klimakrise, die Grünen haben besonders stark abgeschnitten. Wie wird es diesmal sein?
Das ist richtig, 2021 war eine klassische Klimawahl, die Grünen waren sehr erfolgreich im Kontext der "Fridays for Future"-Bewegung und der Aufmerksamkeit, die der Klimawandel am Ende der Großen Koalition unter Angela Merkel erhalten hatte. Das hat sich jetzt geändert.
Zu Beginn des Wahlkampfes ging es vor allem um die Konjunktur, also die wirtschaftliche Lage in Deutschland. Nach den Gewaltereignissen in Magdeburg und in Aschaffenburg geriet das Thema Migration stärker in den Mittelpunkt.
Das lag unter anderem auch daran, dass die politischen Akteure das Thema aufgegriffen haben. Die CSU hat Migration etwa schon Anfang des Jahres mit einem sehr markanten Positionspapier in den Vordergrund gestellt. Hinzu kamen Kontroversen im Bundestag um die Frage, ob schnell noch ein Migrationsgesetz verabschiedet werden soll oder nicht; es ging dabei bekanntlich auch um die Rolle der AfD in diesem Entscheidungsprozess. Aufgrund dieser Aufmerksamkeit in den Medien und in der Politik wird das Migrationsthema sicherlich auch die Wahlentscheidung vieler Menschen mit beeinflussen.
In ihrem TV-Duell haben Bundeskanzler Olaf Scholz und sein Herausforderer Friedrich Merz fast eine Viertelstunde über dieses Thema gesprochen.
Es ist eine Art Teufelskreis. Die Spitzenkandidaten sprechen über das Thema, weil es derzeit so viel Aufmerksamkeit erhält. Damit verstärken sie den Effekt noch, wobei das im Fall des TV-Duells nicht zuletzt journalistisch angeleitet war. Auch deshalb ist das Thema jetzt sehr dominant im Wahlkampf.
Das TV-Duell haben laut Quotenmessung schätzungsweise zwölf Millionen Menschen gesehen, deutlich mehr als das traditionell quotenstarke Finale des "Dschungelcamps". Welchen Einfluss hat ein solches Format auf die Entscheidung der Wählenden?
TV-Duelle sind politische Highlights im Wahlkampf, deshalb schauen einerseits Menschen zu, die politisch interessiert sind, aber auch Unentschlossene und weniger Interessierte. Effekte lassen sich natürlich beobachten auf die unentschlossene Wählerinnen und Wähler. Aber auch in der Gruppe, die schon politisch orientiert ist, kann ein TV-Duell Verstärkungseffekte hervorrufen und die Stammwählerschaft mobilisieren. Deshalb lässt sich schon sagen, dass diese Duelle durchaus auch Wirkung haben können, insbesondere dann, wenn einem der Kandidaten ein Fehltritt oder ein Patzer passiert. Bei Scholz und Merz hat es das freilich nicht gegeben.

TV-Duelle geben den Kandidierenden auch die Gelegenheit zu ausführlichen Statements. Anders ist es logischerweise bei Wahlplakaten, auf denen Botschaften extrem verkürzt werden und teilweise nur aus einzelnen Wörtern bestehen - wie zum Beispiel "Kompetenz" oder "Zuversicht". Wen überzeugt so etwas?
Tatsächlich können Parteien mit Wahlplakaten maximale Reichweiten erzielen, weil sie an vielen hochfrequentierten Orten zu sehen sind. In Nachwahl-Befragungen geben mehr als 90 Prozent der Wählenden an, dass sie Wahlplakate während des Wahlkampfes wahrgenommen haben. Andererseits haben alle in der Regel nur einen Sekundenkontakt mit Wahlplakaten. Es geht darum, Gesichter und Slogans zu platzieren, um Parteien und Kandidaten mit bestimmten Claims in Verbindung zu bringen, eigene Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren und gleichzeitig eine für die eigene Partei positive Stimmung zu verbreiten.
Andererseits setzen die Parteien inzwischen deutlich stärker auf Tiktok, Instagram, Youtube oder X. Welchen Einfluss haben die sozialen Medien auf die Wahlentscheidung im Vergleich zu 2021?
Das lässt sich noch nicht so genau herausarbeiten und die Forschung ist sich in der Frage noch nicht einig. Gerade für junge Menschen sind soziale Medien jedenfalls die zentrale Informationsquelle. Das heißt, sie erfahren aus den sozialen Medien über Politik, sie informieren sich dort und nicht über die traditionellen klassischen Medien, wie das bei den älteren Wählergruppen der Fall ist. Es ist schlüssig anzunehmen, dass damit auch Einfluss auf Wahlentscheidungen ausgeübt wird. Aber wie groß dieser Einfluss ist, ist schwer zu sagen, weil wir letztlich alle unter vielen Informations- und Medieneinflüssen stehen.
Was wir aber mit Sicherheit sagen können ist, dass die Parteien zunehmend in Social-Media-Kampagnen investieren. Im Schnitt sind es derzeit rund zehn Prozent des Wahlkampfbudgets, die Tendenz ist steigend. Und wir haben Parteien, die sehr virtuos mit den sozialen Medien umgehen. Der Erfolg der AfD bei jungen Menschen etwa bei den Europawahlen wird mitunter auf die Rolle von sozialen Medien zurückgeführt, weil die AfD sehr geschickt, sehr gezielt und sehr professionell junge Menschen angesprochen hat.

Welche Rolle spielen die Spitzenkandidaten der Parteien mit Blick auf die kommende Bundestagswahl?
Wir erleben diesmal einen Wahlkampf der unbeliebten Kandidaten. Alle liegen bei Sympathiebewertungen unter 0, also im Minusbereich. Im Plusbereich wären andere Kandidaten gewesen, unter anderem Boris Pistorius von der SPD oder Hendrik Wüst von der CDU. Es gibt diesmal keine klassischen Zugpferde, die mehr Wähler überzeugen könnten, als es die Parteien ohnehin tun würden. Eine kleine Ausnahme war Robert Habeck zu Beginn des Wahlkampfes. Habeck performte deutlich besser in den Umfragen als seine Partei. Das hat sich allerdings inzwischen relativiert.
Worum es deswegen stärker geht, sind die Themen und Positionen der Parteien. Am Ende werden viele Wählerinnen und Wähler vermutlich eine Partei weniger wegen ihres Kandidaten wählen, sondern trotz des Kandidaten.
Nach der Bundestagsdebatte über die sogenannte Brandmauer gegen Rechts ist ein Video der Linken-Politikerin Heidi Reichinneck viral gegangen. Die Linke verzeichnete danach einen Schub bei der Wählerzustimmung. Ist die Wirkung von Bundestagsdebatten in der Öffentlichkeit unterschätzt?
Inzwischen nutzen Parteien die Redebeiträge ihrer Politikerinnen und Politiker, um daraus Teile auszuschneiden und etwa als Reels zu verbreiten. Soziale Netzwerke sind an der Verbreitung der Debattenbeiträge effektiv stärker beteiligt als zum Beispiel der TV-Sender Phoenix, wo Debatten live übertragen werden und sich Menschen im Archiv rückblickend noch einmal 1:1 alles ansehen können. Gleichzeitig ist das Bild, das mit den Videoschnipseln in sozialen Medien entsteht, immer etwas verzerrt, weil der Kontext und die Gegenargumente fehlen.
Einige USA-Beobachter haben sich im vergangenen Jahr darüber gewundert, dass verbale Grenzüberschreitungen oder auch Falschaussagen Donald Trump am Ende offensichtlich kaum geschadet haben. Verliert Seriosität in der Politik zunehmend an Bedeutung?
In den USA gibt es inzwischen große Communities, in denen unterschiedliche Wahrheiten kursieren und zwischen denen man sich nicht mehr auf ein gemeinsames Fundament von Tatsachen einigen kann. Das alles führt bis heute dazu, dass Trump als Präsident Lügen in den Raum stellen kann, ohne dass es ihm schadet. Das macht es noch schwieriger, mit den Äußerungen von Donald Trump umzugehen, weil er diejenigen, die eine kontrollierende Aufgabe haben, als Verbreiter von Fake News bezeichnet. Damit fehlt die Instanz, die sagen kann, was ist denn jetzt richtig, was ist falsch.
In Deutschland gibt es eine andere Kultur in der politischen Debatte, die durchaus noch sachbezogener ist und die eine Aggressivität im Wahlkampf weniger goutiert. Zwischen den Parteien der demokratischen Mitte gab es dementsprechend auch ein Fairnessabkommen, in dem geklärt wurde, dass man solche Ausfälle, Lügen und Beleidigungen nicht praktizieren will. Auch wenn im Wahlkampf durchaus hitzig diskutiert wird, ist die Situation hier meiner Meinung nach noch eine andere als in den USA.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Roberto Jurkschat