Archivbild: Christian Lindner, Freie Demokratische Partei FDP, Die Linke, Moritz Heuberger, Grüne, Wahlplakat zur Bundestagswahl am 23.02.2025. (Quelle: dpa/Joko)

Brandenburg Berlin Bundestagswahl 2025: Das Problem mit den Wahlkreisprognosen

Stand: 22.02.2025 09:46 Uhr

In vielen Berliner Wahlkreisen dürfte es bei der Bundestagswahl ein knappes Rennen um den ersten Platz geben. Einige Kandidaten posten Zahlen und wollen damit mobilisieren. Doch deren Aussagekraft ist zweifelhaft.

In der heißen Phase des Wahlkampfes fliegen viele Zahlen umher, wie die Parteien am Sonntag bei der Bundestagswahl 2025 wohl abschneiden könnten. Die einen nutzen sie, um den großen Rückhalt hinter ihren Kandidaten auf Bundesebene zu untermauern. Andere feiern, weil es so aussieht, als würden sie die Fünf-Prozent-Hürde überschreiten und damit in den Bundestag einziehen.
 
Auch auf Wahlkreisebene gibt es Zahlen. Ob in Berlin-Pankow, -Lichtenberg, -Neukölln oder -Tempelhof-Schöneberg: In vielen Wahlkreisen beziehen sich Kandidaten auf so genannte Wahlkreisprognosen und nutzen sie auch, um noch für Stimmen zu werben. Doch im Gegensatz zu repräsentativen Umfragen ist die Aussagekraft dieser Prognosen äußerst begrenzt, denn sie basieren vor allem auf Modellrechnungen.

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Knappes Rennen in Tempelhof-Schöneberg

Als Beispiel dafür, wie solche Daten verstanden und verwendet werden, hier der Wahlkreis Tempelhof-Schöneberg: Dort rechnen sich mehrere Kandidierende aussichtsreiche Chancen auf das Wahlkreismandat aus. Das legen auch die Daten und Zahlen von Portalen wie "zweitstimme.org", "wahlkreisprognose.de", "election.de" oder dem Umfrage-Unternehmen YouGov nahe.
 
Weil die verschiedenen Anbieter auf unterschiedliche Zahlen kommen, können sich die Kandidaten die Zahlen raussuchen, die ihnen besser passen. Am 9. Februar posten sowohl Moritz Heuberger (Grüne) als auch Sinem Taşan-Funke (SPD) Daten, die zeigen sollen, dass sie in der Wählergunst vor dem CDU-Kandidaten Jan-Marco Luczak oder gleichauf liegen: Heuberger veröffentlichte eine Grafik, laut der er mit 25,8 Prozent knapp vor Luczak mit 24,5 Prozent liege (zweitstimme.org-Daten). Taşan-Funke liegt nach eigener Darstellung mit Konkurrent Luczak jeweils bei 24 Prozent der Wählergunst (YouGov-Daten). Das wird verknüpft mit konkreten Wahlaufrufen in diesem womöglich engen Rennen. Jede Stimme zählt.

Wahlrognosen auf Instagram-Slides zu Tempelhof-Schöneberg auf den Accounts der Grünen und der SPD.(Quelle:Instagram/sinofromtheblock,Instagram/moritz_heuberger)

Kandidat:innen versuchen mit Wahlkreisdaten zu mobilisieren

Daten-Anbieter weisen Unsicherheiten aus, Kandidat:innen nicht

Die Kandidaten weisen also konkrete Zahlen aus, die wie Vorwahl-Umfragen zu lesen sind. Schaut man sich jedoch die Daten bei den jeweiligen Anbietern an, wird deutlich: Unabhängig von der Art der Erhebung sind die dargestellten Werte auch gar nicht so eindeutig.
 
YouGov etwa weist lediglich einen Bereich für die Wählergunst eines Kandidaten aus (siehe Bild unten). Der stellt in gewisser Weise die Unsicherheit der Daten dar und liegt teils bei bis zu zehn Prozent. Das bedeutet: Das Ergebnis eines Bewerbers könnte auch jeweils bis zu fünf Prozentpunkte unter oder über dem angegebenen Prozentwert landen. Und damit nicht genug.

Grafik zu Wahlprognosen der Parteien in Tempelhof-Schöneberg. (Quelle:Screenshot/YouGov)

Die YouGov-Vorhersage für den Wahlkreis Tempelhof-Schöneberg am 20. Februar.

Auch zweitstimme.org weist nur die sogenannten Konfidenzintervalle aus, also den Bereich, bei dem man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sagen kann, dass sich das Wahlergebnis wohl in diesen Grenzen halten wird.
 
Das Beispiel aus Tempelhof-Schöneberg: Hier liegt der grüne Kandidat Moritz Heuberger derzeit bei 19 bis 33 Prozent der möglichen Wählerstimmen, der christdemokratische Kandidat Jan-Marco Luczak bei 18 bis 33 Prozent. Kann man dadurch eine Aussage treffen, wer gewinnt? Eher nicht.
 
Zweitstimme.org schreibt auf seiner Webseite: "Die Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis außerhalb des Intervalls liegen wird, beträgt 1/6. Das entspricht der Wahrscheinlichkeit, mit einem Würfel eine 6 zu würfeln." Zu fünf Sechsteln liegt das Wahlergebnis also innerhalb der Vorhersagewerte. Aber um das zu erreichen, werden eben auch so breite Prozent-Korridore ausgewiesen.

Bewerber betonen Renommee der Datenquellen

Wenn Heuberger also eine Zahl mit Nachkommastelle angibt oder Taşan-Funke einen absoluten Wert, dann täuscht das eine Genauigkeit vor, von der die Datenanbieter transparent darlegen, dass die so nicht existiert.
 
Die Kandidaten aus dem Beispiel verweisen in ihren Posts in den sozialen Medien darauf, wie vertrauenswürdig die Erheber der Daten seien. Unter Taşan-Funkes Post schrieb die SPD Tempelhof-Schöneberg: "Wir berufen uns mit YouGov auf ein weltweit tätiges großes Umfrageinstitut, das mit diesem Modell auch die Wahlkreise bei der UK-Wahl recht treffsicher vorausgesagt hat." Die rbb-Anfrage, warum die Unsicherheit der Daten nicht kommuniziert werde, blieb unbeantwortet.
 
Bei Heuberger heißt es zu den Zahlen von zweitstimme.org, sie basierten "auf einem Modell eines DFG-geförderten Projekts der Hertie School, der Universität Mannheim und der Universität Witten/Herdecke." Die DFG ist die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Der grüne Kreisverband Tempelhof-Schöneberg, der Co-Autor des Posts ist, verweist auf rbb-Anfrage darauf, dass auf den gedruckten Flyern die Unsicherheit der Daten grafisch ausgewiesen wird.

Symbolbild: Ein Mikrofon mit dem Logo des rbb. (Quelle: dpa/Jens Kalaene)
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Schwierigkeit: Es gibt kaum lokale Daten

Für bundes- oder landesweite Umfragen werden im Schnitt rund 1.000 Leute befragt und Ergebnisse entsprechend demografischer Merkmale wie Alter, Bildung und Geschlecht gewichtet, damit die Ergebnisse auch repräsentativ für die Bevölkerung sind. Solche Umfrage-Ergebnisse werden häufig durch persönliche Befragungen, telefonisch oder online durchgeführt. Das ist oft aufwändig und kostet Geld. Geld, das meist ein Auftraggeber bezahlt, etwa die ARD für den DeutschlandTrend [tagesschau.de] oder auch der rbb für den Brandenburg Trend oder Berlin Trend - jeweils durchgeführt durch das Umfrage-Institut Infratest Dimap. Dafür erhält man dann Ergebnisse, die von der Wissenschaft als repräsentativ angesehen werden.
 
Will man nun repräsentative Daten für einen Wahlkreis haben, müsste man auch dort eine entsprechend große Stichprobe an Wahlberechtigten befragen. Das geschieht aber nicht, darauf weist auch zweitstimme.org auf der Webseite hin: "Die Vorhersagen basieren auf einer Modellrechnung, die vor allem Informationen aus Umfragen auf Bundesebene nutzen." Es handle sich nicht um eigene Umfragen im Wahlkreis. Der Anbieter geht sogar noch weiter: "Es ist damit zu rechnen, dass das Wahlergebnis für einzelne Kandidierende deutlich von der Vorhersage abweicht. Wir raten deshalb davon ab, wahlrelevante Entscheidungen einzig auf Basis unserer Vorhersage zu treffen."

Prognosen nicht repräsentativ

Auch die Daten von YouGov basieren nicht auf repräsentativen Umfragen in den Wahlkreisen. Stattdessen wird die Wahlabsicht täglich in einem Onlinepanel abgefragt und anhand der Merkmale der Wahlkreisbevölkerung entsprechend gewichtet. Mindestens 35 Interviews pro Woche führe man auch in den Wahlkreisen, heißt es vom Unternehmen. Das Modell zeige eine Momentaufnahme, da sich die Wahlentscheidungen zwischen der Datenerhebung und dem Wahlsonntag natürlich noch ändern könnten, betont YouGov.
 
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Das Rennen ist in vielen Berliner Wahlkreisen also noch völlig offen. Und in Brandenburg ebenso.