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Brandenburg Berlin Kinder aus suchtbelasteten Familien: "Ich habe sehr viel gelogen für meine Mutter"
Viele Kinder aus suchtbelasteten Familien werden vernachlässigt, oft auch misshandelt. Und viele erhalten offenbar keine Unterstützung von außen - auch weil Hilfsstrukturen fehlen. Die Influencerin Betty Taube kann das aus eigener Erfahrung bestätigen. Von Anja Herr und Sylvia Tiegs
"Es gab Situationen, in denen meine Mutter versucht hat, uns umzubringen." Es ist ganz still im Raum, als die Frau mit den Sommersprossen und Korkenzieherlocken diesen Satz sagt.
Betty Taube, die hier ihre Geschichte erzählt, wurde in Eberswalde geboren. Aufgewachsen ist sie mit ihrer alleinerziehenden, alkoholkranken Mutter dort und an anderen Orten in Deutschland. Oft wurde sie geschlagen, mitbekommen habe es fast niemand, sagt sie: "Meine Mama hat mir gesagt, was ich nach außen sagen soll", sagt die heute 30-Jährige. Wenn jemand fragte, woher die blauen Flecken kommen, habe sie gesagt, das sei beim Spielen passiert. "Ich habe sehr viel gelogen für meine Mutter."
Ab einem Alter von zehn Jahren lebte Betty Taube dann in einem Kinderheim in der Nähe von Wriezen am östlichen Rand Brandenburgs.

Aktionswoche für Kinder aus suchtkranken Familien
Heute arbeitet sie erfolgreich als Model und Influencerin und setzt sich für Kinder aus suchtkranken Familien ein. Zum Beispiel bei der Aktionswoche des Vereins NACOA Deutschland.
Bei der Aktionswoche tragen Vertreter:innen verschiedener Kinderschutz-Organisationen ihr gemeinsames Anliegen an die Öffentlichkeit: Sie fordern eine bessere Politik für Kinder mit psychisch- oder suchtkranken Eltern. Betroffen seien in Deutschland vier Millionen Kinder, so NACOA Deutschland e.V.. Das Thema müsse endlich raus aus der Tabu-Zone, sagen die Veranstalter:innen. Der Claim der Social Media Kampagne: #Ich werde laut.
"Das Ziel ist es, die Lebenssituation der Betroffenen zu verbessern", erklärte Andrea Hardeling von der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. Sie spricht für ein neues Bündnis aus Betroffenenverbänden und Wissenschaftler:innen, das in die Politik hineinwirken will. Viele von ihnen sind nach Berlin gekommen.
Es gebe durchaus Programme, die man dauerhaft und bundesweit anbieten könnte, sagte Christina Reich von NACOA. Ihr Beispiel: das "Fluffi"-Projekt. Hier gehen NACOA-Mitarbeiter:innen ein Jahr lang monatlich in Kindertagesstätten und arbeiten mit den Kindern. Es gehe vor allem darum den Kleinen zu helfen, über ihre Gefühle zu sprechen – und zu erkennen, welchen Menschen sie vertrauen können. Denn nahezu jede Kita betreue Kinder mit suchtkranken Eltern, sagt Reich. Den Pädagogen werde diese Arbeit dann in Workshops vermittelt, so dass sie sie anschließend selbst fortsetzen könnten. Außerdem bietet NACOA den Eltern Gespräche an.
Das Geld fehlt
Funktionierende Projekte gibt es also - das Problem ist oft die Finanzierung: Denn Projekte werden von Bundesland zu Bundesland verschieden bezahlt. Mal sind es kommunale Gelder, mal von einer Stiftung, oft ist es ein bunter Mix. Langfristige Finanzierung ist in den seltensten Fällen garantiert, das geht zu Lasten der Kontinuität. "Sehr viele Organisationen und Vereine kämpfen Jahr für Jahr darum, ihre bewährten Angebote für Kinder und Jugendliche aus psychisch- oder suchtbelasteten Familien weiterführen zu können, da ihnen die nötigen finanziellen Mittel fehlen", sagt Anna Buning von der Drogenhilfe Köln. Es sei "absurd", dass immer wieder neue Projekte oder Zusatzangebote erschaffen würden, die dann nicht aufrechterhalten werden könnten.
Es fehlt nach Aussage der Organisationen außerdem ein einheitliches Hilfesystem für diese Kinder - ein Regelwerk, wie Jugendämter oder andere Ämter standardisiert mit Kindern aus suchtkranken Familien verfahren, um sie zu unterstützen.
Wir müssen Kinder stärken, damit sie ernst genommen werden. Und damit sich endlich etwas ändert.
Vier Fraktionen wollen unterstützen
Politisch müsse sich noch sehr viel bewegen, sagen die Expert:innen. Ein Schritt in die richtige Richtung sei der Beschluss eines fraktionsübergreifenden Antrags im Bundestag Ende Januar. Er zielt darauf ab, Kindern mit süchtigen Eltern besser zu helfen.
SPD, Grüne, Union und FDP fordern darin unter anderem eine stärkere Vernetzung verschiedener Akteur:innen in den Hilfesystemen, zum Beispiel zwischen der Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen. Da scheint der Informationsaustausch oftmals nicht zu funktionieren, um betroffenen Kindern zu helfen.

Außerdem plädiert der Antrag für Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte und Kitapersonal, damit diese besser erkennen, ob ein Kind aus einer suchtkranken Familie kommt – und dieses dann entsprechend unterstützen können. Auch die Aufstockung finanzieller Hilfen wird angesprochen.
Bisher ist der Antrag vor allem eine politische Absichtserklärung. Ob daraus eine Gesetzesinitiative auf Bundes- oder kommunaler Ebene wird, ist ungewiss.
Kinder nicht alleinlassen
Notwendig wäre das aus Sicht von NACOA – um die Kinder nicht allein zu lassen. "Ich bin erst mit zehn Jahren ins Kinderheim gekommen", sagt Betty Taube. "Davor war ich oft schon im Kindernotdienst, oder nächtelang auf irgendeiner Polizeiwache. Aber ich wurde trotzdem immer wieder zu meiner Mutter zurückgegeben." Betty Taubes Fazit ihrer schwierigen Kindheit: "Wir müssen Kinder stärken, damit sie ernst genommen werden. Und damit sich endlich etwas ändert"
Sendung: rbb24 Brandenburg Aktuell, 17.02.2025, 19:30 Uhr