Friedrich Merz kommt aus dem Bundeskanzleramt nach einem Treffen mit Olaf Scholz und steigt in Begleitung von Bodyguards in sein Auto.
analyse

Nach Eklat im Weißen Haus Berlin im Übergang - der Westen im Umbruch

Stand: 01.03.2025 17:03 Uhr

Die Welt wartet nicht auf Deutschland - die Worte von Friedrich Merz am Wahlabend haben nach dem Eklat im Weißen Haus neu an Bedeutung gewonnen. Zähe Koalitionsgespräche können sich Union und SPD kaum leisten.

Von Hans-Joachim Vieweger, ARD-Hauptstadtstudio

Das Entsetzen nach dem Eklat zwischen US-Präsident Trump und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj ist groß, aus vielen europäischen Hauptstädten kommen Solidaritätsbekundungen für die Ukraine. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock spricht von einem "neuen Zeitalter der Ruchlosigkeit".

Doch viele Spitzenpolitiker beschäftigt auch die Frage, wie Europa sich in einer Welt aufstellen muss, in der sich die USA nicht mehr als Vertreter des Westens verstehen. In den Worten der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas: "Heute ist klar geworden, dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht. Es liegt an uns Europäern, diese Herausforderung anzunehmen."

Klar ist, dass Deutschland bei der Bewältigung dieser Herausforderung eine zentrale Rolle zukommt. Just in dieser weltpolitisch bedeutenden Phase befindet sich Deutschland aber in einem Übergang - von der abgewählten Regierung unter Kanzler Olaf Scholz hin zu einer neuen Regierung, die wahrscheinlich der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, anführen wird.

Merz spricht von neuem Koordinatensystem für die Politik

Aus Sicht von Merz sollten die Gespräche zwischen Union und SPD zu einer baldigen Regierungsbildung führen. Um Ostern herum sollte die neue Regierung stehen. Im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sagt er: "Das gesamte Koordinatensystem, in dem sich unsere Politik bewegt, wird gerade neu geschrieben. Und genau deshalb müssen wir uns einen ehrgeizigen Zeitplan vornehmen, denn die neue Regierung sollte allein durch einen entschlossenen Start zeigen, dass Deutschland handelt."

Nun haben die Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD bereits am Freitag begonnen und damit etwas früher als zunächst angekündigt. Doch ob es so schnell klappt, wie von Merz erhofft?

Denn zunächst einmal müssen die Spitzen von Union und SPD neues Vertrauen zueinander gewinnen, nachdem im Wahlkampf viel Porzellan zerschlagen worden ist. Manche SPD-Abgeordnete tun sich weiter grundsätzlich schwer mit dem Gedanken, einen Kanzler Merz im Bundestag mitzuwählen. Dazu kommt: Die Sozialdemokraten wollen die eigenen Mitglieder über einen möglichen Koalitionsvertrag abstimmen lassen - das dürfte zunächst einmal Überzeugungskraft und dann auch etwas Zeit kosten.

Andererseits könnte die neue Weltlage zur Beschleunigung der Gespräche beitragen. Der scheidende SPD-Außenpolitiker Michael Roth zum Beispiel will mehr Tempo: "Deutschland muss schnell wieder in der Lage sein, seine gewichtige Rolle auszufüllen, sonst scheitern wir vor der Geschichte." Wenn die EU-Mitgliedsstaaten schwach seien, werde Europa den USA nicht standhalten können, so Roth. In eine ähnliche Richtung geht der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen. Er fordert: "Wir müssen die gewöhnlichen Rituale außer Kraft setzen und unsere innenpolitische Geschwindigkeit der außenpolitischen Realität anpassen."

Überlegungen zu einem "schmalen" Koalitionsvertrag

Ganz in diesem Sinn wird in Unionskreisen bereits ein "schlanker" Koalitionsvertrag angeregt, der nicht versucht, die politischen Vorhaben für die kommenden vier Jahre im Detail zu regeln. Zumal nach den Erfahrungen der Ampelkoalition: Schon nach wenigen Wochen im Amt wurde sie durch den russischen Angriff auf die Ukraine vor ganz neue Herausforderungen gestellt.

Tatsächlich sind frühere Bundesregierungen mit deutlich dünneren Koalitionsverträgen ausgekommen: der Vertrag zwischen Union und FDP im Jahr 1961, als erstmals ein Koalitionsvertrag abgeschlossen wurde, bestand aus rund 2.000 Wörtern. Zuletzt kamen Koalitionsverträge aber auf 50.000 bis 60.000 Wörter.

Woher soll zusätzliches Geld für die Bundeswehr kommen?

Mit dem Eklat in Washington gewinnt aber auch die Frage nach der Verteidigungsfähigkeit Europas neue Bedeutung. Schon seit Monaten wird über höhere Ausgaben fürs Militär diskutiert. Die Anforderung der NATO an ihre Mitglieder, mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in die Verteidigung zu stecken, könnte erhöht werden. Das würde ein neues Loch in den Bundeshaushalt reißen.

Derzeit erfüllt Deutschland das Zwei-Prozent-Ziel nur durch die Kombination aus dem regulären Verteidigungshaushalt (mit gut 50 Milliarden Euro) und Entnahmen aus dem kreditfinanzierten Sondervermögen (mit aktuell rund 30 Milliarden Euro). Doch dieses Sondervermögen wird schon bald aufgebraucht sein. Die Frage der Finanzierung stellt sich umso dringender. Dabei wird seit Tagen vor allem über neue Schulden diskutiert: In Form eines weiteren kreditfinanzierten Sondervermögens oder einer allgemeinen Aufweichung der Schuldenbremse. Für beides bräuchte es eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat.

Allerdings verfügen im künftigen Bundestag AfD und Linke zusammen über mehr als ein Drittel der Stimmen, sie können also, wenn sie gemeinsam abstimmen, Grundgesetzänderungen verhindern. Vor diesem Hintergrund haben zunächst die Grünen gefordert, noch im alten Bundestag über zusätzliche Schulden zu entscheiden - aus der Union wurde schnell Zustimmung signalisiert - wenn auch begrenzt auf das Thema Bundeswehr. Die SPD zögert: Sie macht eine weitergehende Reform der Schuldenbremse zur Bedingung.

Zusätzliche Hilfen für die Ukraine

Nach dem Eklat im Weißen Haus könnte es nun aber doch ganz schnell gehen, zumal auch die Grünen, ohne die eine Grundgesetzänderung unmöglich wäre, drängen. Konkret könnte das dreierlei bedeuten: Noch mit dem bestehenden Bundestag könnten neue Schulden für ein Sondervermögen beschlossen werden, vor allem für die Bundeswehr, möglicherweise aber auch für Investitionen in die Infrastruktur.

Zum zweiten könnten sich die Parteien darauf verständigen, in der neuen Legislaturperiode die Schuldenbremse zu reformieren, ohne das gleich in jedem Detail festzuzurren. Und zum dritten könnte der Bund jene drei Milliarden Euro für die Ukraine freigeben, über die seit Wochen zwischen Kanzler Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) gestritten worden war - eine Forderung, die nun Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) neu erhoben hat.

Da schon demnächst wichtige Treffen auf europäischer Ebene anstehen, dürfte es im Vorfeld einen regen Austausch zwischen den Mitgliedern der amtierenden Regierung und dem Team um Friedrich Merz geben - von "engster Abstimmung" der demokratischen Parteien spricht Außenministerin Baerbock. Und Bundeskanzler Scholz hat sich bereits in der Nacht nach dem Krach zwischen Trump und Selenskyj mit Merz ausgetauscht. Auch das ein Zeichen, dass die Bedeutung der Ereignisse von Washington wohl von niemandem geringgeschätzt wird.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 01. März 2025 um 20:00 Uhr.